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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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Kraft wider, die sich selbst über das Rauschen des Flusses und über das Tosen des Regens erhebt.
    »Henry! Schau mich an, Henry!« Ich will ihn spüren lassen, dass ich keine Angst habe, und ich versuche, seinen Blick nur durch meine Willenskraft festzuhalten. »Ich fürchte mich nicht, Henry. Es gibt keine Notwendigkeit für dich, mich zu beschützen, in Ordnung?«
    Seine Lippen haben einen tödlichen blauen Schimmer angenommen, der sich an den Mundwinkeln leicht lila verfärbt. Er kann kaum noch sprechen, kann vor lauter Kälte
kaum den Mund öffnen. »Vater sagte mir, ich solle sie verstecken. Er bat mich, auf sie aufzupassen. F…f…für dich, Lia.«
    Und dann sehe ich, was ich insgeheim befürchtet habe. Henrys Faust hält etwas Schlaffes, Weißes fest umklammert. Ich verfluche mich innerlich. Indem ich die Liste von Alice forderte, bewies ich ihr, dass ich sie nicht habe. Ich gab ihr lediglich einen Grund, anderswo danach zu suchen.
    »Steck sie in die Tasche, Henry. Steck sie weg, bis wir wieder im Haus sind.« Mit entschlossenen Schritten gehe ich auf Henry zu. Ich werde ihn mitnehmen. Alice soll nur versuchen, mich aufzuhalten.
    Aber sie tut es nicht. Sie kommt nicht einmal in meine Nähe. Stattdessen geht sie auf Henry zu und packt die Griffe seines Rollstuhls mit beiden Händen. Dann wendet sie den Kopf und schaut mich an.
    »Keinen Schritt näher, Lia. Ich sage es nicht noch einmal.« Und dann, zu Henry gewandt: »Gib mir die Liste, Henry. Wenn du Lia beschützen willst, wie Vater es von dir verlangte, dann wirst du mir die Liste geben. Wenn nicht, dann wird Lia die Last, die sie auf den Schultern trägt, niemals loswerden.« Es ist nicht nötig, mir weiter mit Worten zu drohen. Ihre Hände auf Henrys Rollstuhl, der so nah am Ufer steht, sind Drohung genug.
    Störrisch zieht Henry die Schultern hoch. »Nein. Ich tue nur, worum Vater mich gebeten hat.« Seine Lippen zittern und verraten die Angst, die hinter seiner zerbrechlichen Standfestigkeit liegt.

    Jetzt reicht es mir. Ich gebe mir den Anschein von Selbstsicherheit und trete auf Henry zu. »Das ist doch lächerlich, Alice. Lass Henry sofort in Ruhe. Ich werde ihn ins Haus bringen.«
    Ich bin schon fast neben ihr, als Alice herumwirbelt, schneller, als ich es bei diesem hämmernden Regen für möglich gehalten hätte, sodass sie und Henry dem Fluss zugewandt sind. Dann schaut sie mich über die Schulter hinweg an.
    »Komm nicht näher, Lia. Nicht.«
    Ich bleibe stocksteif stehen. Nachdenken. Nachdenken, so schnell mein Geist meine Gedanken vorantragen kann. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht ist unergründbar - eine Mischung aus Zorn, Angst und Trauer, so miteinander verwoben, dass man unmöglich erkennen kann, wo das eine aufhört und das andere beginnt. Sie wirkt wie von Sinnen. Ihre Augen sind wild. Ich traue ihr nicht, schon gar nicht, wenn es um meinen Bruder geht. Es ist am klügsten, Henry so schnell wie möglich ihrem Zugriff zu entziehen. Ich mache noch einen Schritt auf sie zu und täusche ein Vertrauen in ihre Vernunft vor, das ich ganz und gar nicht verspüre.
    »Nicht.« Ihre Augen sind flehentlich, bitten mich um etwas, das ich nicht begreife und das zu gewähren ich nicht willens bin. »Bitte, Lia.«
    Es ist diese letzte Bitte, die mich die Sicherheit fühlen lässt, um noch einen Schritt zu tun, die mich glauben macht, dass Alice Henry nicht wehtun will.

    Aber ich befinde mich im Irrtum. In einem entsetzlichen Irrtum. Denn ich habe nur diesen einen Schritt gemacht, als sie kurz den Kopf sinken lässt und dann Henry und seinem Stuhl einen Stoß in Richtung Fluss versetzt, so beiläufig, als handele es sich um einen Stein.
    Ich höre das entsetzliche Knarren von Henrys Stuhl, trotz des prasselnden Regens - unglaublich, aber wahr -, und die Räder bewegen sich vorwärts über den kiesigen Abhang, zunächst nicht sehr schnell, doch dann immer rascher, als die Neigung stärker wird.
    Am Unbegreiflichsten ist jedoch, dass mir alles so langsam vorkommt. Tief in meinem Geist weiß ich, dass alles viel zu schnell geschieht, dass die Gefahr mit jeder Sekunde wächst, aber in diesem Augenblick scheint es mir, als würde sich die Welt langsamer drehen, als würde sich die Zeit endlos ausdehnen.
    Ich werfe mich vor, stolpere über die nasse Erde, greife verzweifelt nach seinem Bein, nach einer Speiche des Rades, nach irgendetwas, aber Henry rollt unaufhaltsam auf den Fluss zu. Ich falle bäuchlings in den Schlamm, und meine Finger umfassen eine

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