Die Prophezeiung der Seraphim
sie hier gefangen ist?«
Ohne dass er den Erzengel hatte näher kommen sehen, stand dieser plötzlich vor ihm, stützte seine Arme links und rechts von ihm auf die Rückenlehne des Diwans und brachte sein Gesicht ganz nah an Rubens. »Was sie getan hat, ist unverzeihlich. Sie beging Verrat an unserem Volk. Sie hat die Exzision mehr verdient als jeder andere.«
Ruben drückte sich tiefer in die Polster. Er wollte keine Angst vor seinem Vater zeigen, aber seine Nähe war einschüchternd. Dennoch fuhr er fort: »Was bedeutet das, Exzision?«
Es war die Comtesse, die ihm mit sanfter Stimme antwortete: »Die Abspaltung der Seele von ihrem Körper. Letzterer verliert dadurch jeglichen Willen, und die Seele ist ohne den Schutz des Körpers dem ewigen Wahnsinn preisgegeben.«
Ruben fand, dass das furchtbar klang, ganz gleichgültig, was jemand verbrochen hatte, aber er schwieg aus Furcht, den Zorn seines Vaters zu erregen. Innerlich zog sich jedoch etwas in ihm zusammen, als er sich vorstellte, wie es sich anfühlen musste, wahnsinnig zu werden und nicht einmal die Erlösung durch den Tod erhoffen zu dürfen.
Er sah hinüber zur Comtesse. »Aber Ihr habt mir doch erzählt, dass meine Mutter mich verlassen hat, dass sie fortging.«
»Das tat sie auch, mein Prinz.« Elisabeth d’Ardevon lächelte betörend. »So entzog sie sich der gerechten Strafe.«
Noch immer war Cals Gesicht dicht vor dem Rubens. »Mein größter Schmerz war, dass sie dich und deine Schwester hat fortbringen lassen, bevor sie mich verriet. In ganz Frankreich habe ich euch gesucht, aber es gab all die Jahre nie ein Zeichen von euch.«
Ruben zog sein Amulett unter dem Hemd hervor. »Ich glaube, das hier hat uns geschützt.«
»Als hättet ihr euch vor mir schützen müssen – mir, eurem Vater!« Cal richtete sich auf, er klang betroffen.
»So habe ich es nicht gemeint, Verzeihung!«
»Ich weiß, mein Sohn, es ist gut. Nun benötigst du es ja nicht mehr.« Cal streckte die Hand aus. Ruben zögerte einen Augenblick, dann überließ er seinem Vater das Amulett.
»Du bist ein guter Junge.« Cal legte den Anhänger auf einen kleinen Sekretär und fuhr ihm über das Haar »Aber du musst am Verhungern sein, setzen wir uns zu Tisch!«
Die seltsam teilnahmslose Dienerin wartete neben einem Tisch vor dem großen Fenster. Wieder sah sie auf ihre Füße, sodass das verfilzte Haar ihr Gesicht halb verdeckte. Ruben hatte gar nicht bemerkt, dass sie zurückgekehrt war und aufgetragen hatte. Zwischen den Tellern aus feinstem Porzellan drängten sich Platten und Schüsseln voller Köstlichkeiten.
»Du kannst gehen, wir bedienen uns selbst«, sagte die Comtesse, und die Frau entfernte sich schweigend.
Beim Essen stellte Cal Ruben zahllose Fragen nach seiner Kindheit. Ruben fühlte nichts, als er von seiner freudlosen Vergangenheit erzählte, es war, als spräche er über einen Anderen.
»Es ist unverzeihlich, was deine Mutter dir angetan hat, nur, um mir Schmerz zu bereiten«, sagte Cal, nachdem Ruben geendet hatte.
»Aber Ihr habt sie doch geliebt?«, fragte Ruben, der nach zwei Gläsern Wein begann, sich behaglich zu fühlen.
»Ihre Schönheit hat mich lange über ihr eigensüchtiges Wesen hinweggetäuscht, und ich gestehe, dass ich mich täuschen lassen wollte. Ich suchte eine Gefährtin, um mit ihr Nachkommen zu zeugen, etwas, das uns Unsterblichen sehr selten gelingt. Wir Seraphim müssen uns erneuern, unser Blut ist alt, der Geist müde.« Er neigte sich über den Tisch. »Wir sind krank, mein Sohn. Wir vergessen, was wir sind. Ich selbst kann mich an nichts erinnern, das länger als zweihundert Jahre zurückliegt, und doch weiß ich aus unseren Chroniken, dass ich bereits lebte, als die Welt nur aus Stein und Feuer bestand. Meine Vergangenheit ist erloschen, und wie mir geht es vielen Unsterblichen, schon seit langer Zeit. Daraus sind diese verrückten Ideen entstanden, die Menschen seien uns ebenbürtig und wir sollten ihnen die Führung überlassen.« Cal lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah Ruben in die Augen. »Was hältst du von den Menschen, mein Sohn?«
Ruben rieb sich die Nase, um Zeit zu gewinnen. Sollte er ehrlich sein?
»Bis vor wenigen Wochen habe ich geglaubt, selbst ein Mensch zu sein«, erwiderte er vorsichtig. »Und ich bin auch guten Menschen begegnet, wie meinem Freund Henri.«
Cal lachte so sehr, dass der Tisch wackelte. »Du hast einen Menschenjungen als Freund?«
»Köstlich, nicht wahr?«, warf Elisabeth d’Ardevon
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