Das Erbe der Apothekerin - Roman
PROLOG
»ES TUT MIR sehr leid für dich, mein Kind! Aber wir alle müssen früher oder später damit rechnen, dass unsere Eltern uns verlassen. Du hast immerhin den Trost und die Gewissheit, dass es dem lieben Gott gefallen hat, deinen Vater nicht lange leiden zu lassen: Sein Herz blieb einfach stehen.«
Magdalena vernahm die Worte der Mutter Oberin merkwürdig gedämpft, wie durch einen Wattebausch; irgendwie begriff sie das Furchtbare noch gar nicht so recht. Am 15. Februar 1414 hatte Georg Scheitlin sie ins Kloster begleitet, und zwei Monate später erfuhr sie von seinem Tod? Ihr vor Gesundheit und Kraft strotzender, lebensfroher Vater, dessen Kopf stets von Plänen und Ideen erfüllt war, sollte auf einmal tot sein? Das konnte, nein, das durfte nicht wahr sein! Sicher handelte es sich um eine Verwechslung. Der Irrtum würde sich in Kürze herausstellen und …
»Ich schlage vor, meine Tochter, dass du dich jetzt in die Kapelle begibst, um dort für die Seele deines Vaters zu beten. Die nächsten Tage bist du natürlich von allen Aufgaben im Kloster entbunden, um dich nur der inneren Einkehr und dem Gebet zu widmen – etwas, wozu du als liebende Tochter verpflichtet bist. Alle Schwestern unserer Gemeinschaft werden dich dabei nach Kräften unterstützen, und unser Pater Gebhard wird eine spezielle Totenfeier für Georg Scheitlin, den ehrenwerten Ratsherrn der Freien Reichsstadt Ravensburg, abhalten.«
Mehr denn je glaubte das junge Mädchen zu träumen. Was
redete die Oberin da? Es verstand sich doch von selbst, dass sie in den kommenden Tagen für den Dienst in der Krankenstube nicht zur Verfügung stünde: Sie musste natürlich auf dem schnellsten Wege das idyllisch am Bodensee zwischen Immenstaad und Hagnau gelegene Nonnenkloster Sankt Marien am See verlassen.
Sie hatte in ihre Heimatstadt zurückzukehren, um den Begräbnisfeierlichkeiten beizuwohnen. Immerhin war sie das einzige Kind des allseits geachteten Stadtapothekers und Ratsherrn Georg Scheitlin.
»Wo ist der Knecht meines Vaters, der Euch die traurige Botschaft brachte, Ehrwürdige Mutter? Man soll ihm sagen, dass ich mich beeile und sofort bereit sein werde, mit ihm nach Hause zu fahren oder meinetwegen auch zu reiten. Ich will keine Zeit vertrödeln, sondern rechtzeitig daheim ankommen, um alles für eine würdige Totenfeier in die Wege zu leiten.«
»Halt, mein Kind!«, wehrte die ältliche Nonne ab und ergriff den Arm der ihr anvertrauten jungen Frau. »Du musst nirgendwo hingehen. Die Bestattung deines Vaters fand bereits am 1. März in Anwesenheit sämtlicher Honoratioren von Ravensburg statt.
Dein Oheim war so liebenswürdig und hat sich um alles gekümmert, um dir die Mühe zu ersparen, mein Kind. Außerdem wollte er dich in deiner Beschaulichkeit hier im Kloster nicht stören. Wozu auch? Du hättest deinem Vater sowieso nicht mehr helfen können; ja, sogar der Abschied von ihm wäre dir verwehrt geblieben: Er war doch längst – ohne krank gewesen zu sein – im Schlaf verschieden. Außerdem: Schwierige Dinge zu regeln, versteht ein Mann allemal besser als ein schwaches, unerfahrenes, junges Weib.
Er und seine Gemahlin lassen dir ausrichten, dass es eine
höchst würdige Totenfeier war, die der herausragenden Stellung deines Vaters in hohem Maße gerecht wurde. Alle Räte der Stadt, die Vertreter der Zünfte sowie zahlreiche Bürger von Ravensburg haben dem Verblichenen die letzte Ehre erwiesen. Dir das auszurichten, bat mich dein Vormund ausdrücklich. Herr Mauritz Scheitlin ersucht dich lediglich, für die Seele seines verstorbenen Bruders aufs Innigste zu beten. Und wo – meint er – könntest du das wohl besser als bei uns im Kloster, meine Tochter?«
»So? Meint mein Herr Oheim das? Ich meine das aber ganz und gar nicht!«, entgegnete Magdalena hitzig und nicht im Geringsten bereit, sich auf den beschwichtigenden Tonfall der Nonne einzulassen. Vor Aufregung merkte sie nicht einmal, wie ihr die Tränen über ihr glühendes Gesicht liefen.
»Wie kommt der Bruder meines Vaters dazu, mich auf derart dreiste Art und Weise zu übergehen? Mit welchem Recht mischt er sich in Angelegenheiten ein, die nur mich, das einzige Kind und die alleinige Erbin Georg Scheitlins, etwas angehen?
Ich habe da so eine Vorahnung, die mir überhaupt nicht gefällt! Mein Oheim weiß, dass mein Vater zu seinen Lebzeiten nicht viel von ihm gehalten hat – und von seinem nichtsnutzigen Sohn Bertwin noch viel weniger. Schon um unserer verwaisten
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