Die Prophezeiung der Seraphim
Bibliothekstisch vor der Nische saß eine weiße Katze, die ihn mit bernsteinfarbenen Augen anblickte.
»Songe, bist du das?«
Ganz recht. Die Katze sprang vom Tisch, kam zu ihm und streifte um seine Beine. Er ging in die Hocke und strich ihr übers Fell. Dabei sah er zur Tür, denn ihm war, als hätte er ein leises Knacken der Dielen vernommen, aber es war niemand zu sehen.
»Was machst du hier?«, flüsterte er. »Und weshalb kann ich dich hören?«
Du bist Julies Zwillingsbruder und hast dieselbe Fähigkeit wie sie, mit mir zu sprechen. Versuch es!
Wie bist du hier reingekommen? Ruben stellte fest, dass es ihm ganz leichtfiel, die Worte im Geist zu formulieren und an Songe zu richten. Es fühlte sich ein bisschen an, wie einen Ball zu werfen.
Mauern halten mich nicht auf, wie du weißt. Aber wir haben nicht viel Zeit. Julie schickt mich, um dir zu sagen, was der Erzengel mit euch vorhat.
Dunkelheit stieg in Ruben auf, als Songe ihm von Plomions Vermutungen und Julies Plan erzählte. Die Freundlichkeit der Comtesse, Cals väterliches Gebaren, hatte das alles nur dazu gedient, ihn zu täuschen?
»Warum hat mein Vater mich dann so gut aufgenommen?«, murmelte er. »Er hätte mich einfach einsperren können.«
Auch Katzen spielen gerne noch eine Weile mit ihrer Beute, wenn sie sich ihrer sicher sind. Wirst du die Tür des Geheimgangs öffnen?
Ich weiß nicht mehr, was wahr und richtig ist. Welchen Beweis hast du für das, was du mir erzählt hast?
Gar keinen , erwiderte Songe. Du musst mir einfach glauben.
Würde Cal wirklich so weit gehen, ihn und Julie töten, um seinen Machtanspruch zu festigen? Wenn das der Wahrheit entsprach, dann wusste er nun, was der Erzengel damit gemeint hatte, Andipalos werde wiederkehren. Cal Savéan selbst würde es sein.
Dennoch konnte Ruben sich nicht so einfach entscheiden. Er wollte nicht glauben, dass sein Vater und die Comtesse ihn so betrogen hatten. Vielleicht irrte sich Julie.
»Ich weiß nicht. Ich muss über alles nachdenken. Aber ich verspreche, dass ich meinem Vater nichts verrate.«
Heute Abend gegen Mitternacht werden wir auf dich warten. Überlege gut, was du tust.
Ruben nickte und sah zu, wie Songe sich in einem kleinen Wirbel hellen Nebels auflöste. Sobald sie verschwunden war, kam ihm alles wie ein Traum vor. Aber er hatte nicht geträumt. Er erhob sich, legte das grüne Buch in den Archivschrank zurück und schloss die Türen. Die Chroniken waren jetzt nicht mehr wichtig.
In diesem Augenblick betrat Villeraux die Bibliothek, Ruben zuckte zusammen und machte rasch einige Schritte zu den Tischen hin, weg vom Schrank mit den Manuskripten.
»Ich habe Euch gesucht.« Villeraux’ gewinnendes Lächeln kam Ruben falsch vor, aber er zwang sich, ein freundliches Gesicht zu machen.
»Ich konnte nicht mehr schlafen. Gerade wollte ich ein bisschen auf der Bastion herumlaufen, kommt Ihr mit?«
Villeraux wäre ihm sowieso gefolgt, aber so konnte Ruben den Anschein erwecken, als legte er Wert auf die Gesellschaft seines Bewachers.
Es war ein düsterer Tag, am Himmel schichteten sich graue Wolkenfetzen übereinander und es herrschte ein gelbliches Dämmerlicht. Träge wälzte sich das Meer in langen Wellen gegen die Mauern. Der erste Herbsthauch lag in der Luft und kühlte Rubens Gesicht.
»Es gibt keinen schöneren Platz auf der Erde als diesen«, bemerkte Villeraux.
»Aber die Seraphim sind nicht zufrieden hier, oder?« Ruben strich sich das Haar aus den Augen.
»Sagen wir, wir haben uns eingerichtet. Doch auch in dieser Welt hatten wir schon bessere Zeiten, wenn ich das so sagen darf.«
»Aber warum ist es so wichtig für uns, die Menschen zu beherrschen?«, fragte Ruben.
Villeraux kicherte, als hätte Ruben etwas Unerhörtes gesagt. »Der Erzengel sagt, nur wer gefürchtet ist, muss sich nicht fürchten. Und wenn das Tor erst offen ist, wird er uns rächen für das, was uns angetan wurde.«
»Aber wenn dieser Phanes alles erschaffen hat, was wird passieren, wenn der Erzengel ihn besiegt?«
»Dann wird Kronos, dein Vater, die Macht über die Dunklen Scharen erhalten.« Villeraux’ Stimme bebte vor Ehrfurcht. »Und seine Macht wird grenzenlos sein.«
»Was sind die Dunklen Scharen?« Ruben musste schreien, der Wind riss ihm die Worte von den Lippen.
»Ausgeburten der Dunkelheit, das fürchterlichste Heer, das es jemals gab.«
»Da kann ich ja froh sein, dass ich auf der richtigen Seite stehe.« Ruben rang sich ein Lächeln ab. Lag in Villeraux’
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