Die Prophezeiung der Seraphim
schlimmer ist als der Tod. Cal hat Rheas Seele in ein Seelenglas gebannt, ein von ihm geschaffenes, unzerstörbares Gefäß. Ebenso wie bei allen anderen, die nicht bereit waren, die Pforten des Hades zu öffnen und damit unglaubliches Leid über diese Welt zu bringen.«
Während seiner letzten Worte war Fédéric wieder hereingekommen. Er trug ein Tablett mit Wurst und Käse, das er zwischen Plomion und Julie abstellte. Er zündete auch die Kerze an und deckte den Tisch mit zwei Tellern und dem angelaufenen Silberbesteck. Julie hätte gerne seine Hand genommen, aber sein Gesicht war so verschlossen, dass sie es nicht wagte. Seit dem Vorfall mit Nicolas hielt er deutlichen Abstand zu ihr.
»Was für ein Ungeheuer muss mein Vater sein.« Sie hatte einen bitteren Geschmack im Mund.
»Er gehört zu denen, die sich, anders als die meisten von uns, durch den Umgang mit Menschen nicht verändert haben. Ich bin nicht einmal sicher, ob man ihn verurteilen kann. Er hat eine ganz andere Sicht auf diese Welt. Er denkt noch immer wie ein Titan.«
»Ein Titan?«
»Ja, die Titanen der griechischen Mythologie.«
Julie versuchte, zu verstehen. »Weshalb sind die Seraphim zugleich Titanen? Die einen entstammen der griechischen Mythologie, die anderen der christlichen.«
Plomion lächelte und rückte seinen Kneifer zurecht, den er immer bei der Arbeit trug. »Das ist nur verwunderlich, wenn man die Religionen als voneinander getrennte Systeme betrachtet. Doch in Wirklichkeit sind sie miteinander verflochten. Es gibt überall Verbindungen und Überschneidungen – dieselben Gestalten tragen nur unterschiedliche Namen in verschiedenen Religionen. Die sich im Ursprünglichen Reich Titanen nannten, nahmen auf der Erde irgendwann die Bezeichnung Seraphim an, weil die Menschen sie für Engel hielten. Und das, was wir Seraphim das Ursprüngliche Reich nennen, entspricht Olymp und Hades in der griechischen Mythologie.«
»Es sind also dieselben Wesen, aber zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten tragen sie unterschiedliche Namen.« Julie sah ihn fragend an.
Plomion nickte. »Du bist eine kluge junge Frau. Ich wäre froh, wenn du an Cals Stelle die Seraphim anführen würdest.«
Julies Gesicht wurde warm, und sie fuhr rasch fort: »Habt Ihr herausgefunden, wozu man die Konstruktion meines Pflegevaters benutzt? Kann ich damit den Erzengel töten?«
Plomion schüttelte den Kopf. »Das nicht. Aber wenn sie funktioniert, kann sie die Seelengläser zerstören. Sie dient dazu, deine Mutter zu befreien.«
»Nicolas, komm endlich raus da! Oder soll ich dir das Dach über dem Kopf anzünden?« Julie hämmerte gegen die Tür. Sie, Fédéric und Plomion hatten den ganzen Vormittag vergeblich darüber nachgedacht, wie sie in die Abtei von Mont St. Michel hineinkommen konnten. »Ich habe mich stets von der Abtei ferngehalten«, hatte der ältere Seraph erklärt. »Darum kenne ich mich im Inneren nicht besonders gut aus. Aber Nicolas war von klein auf häufig mit seiner Mutter dort, vielleicht fällt ihm etwas ein.«
Daraufhin war Julie in den oberen Stock geeilt, wo Nicolas sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte. Jetzt wurde endlich die Tür geöffnet. Julie blieb mit erhobener Faust stehen und starrte Nicolas an. Er hatte sich wieder verändert, und seine kalte Schönheit ließ Julie frösteln.
Er lehnte sich in den Türrahmen und sah sie mit starren Augen an. »Was willst du?«
Julie räusperte sich und sagte: »Komm runter, wir brauchen dich. Du bist der Einzige, der sich in der Abtei auskennt und uns da hineinbringen kann.«
Nicolas seufzte, als wünschte er, nicht mit solchen Dingen belästigt zu werden, aber dann wandte er sich zur Treppe. Als sie ihm nach unten folgte, fiel ihr sein eigenartiger Gang auf, er glitt mehr, als er lief, und sie fühlte sich an Songe erinnert, wenn sie sich an ihre Beute heranschlich. Nicolas’ Veränderung schien unaufhaltsam, Stück für Stück wurde er ihr fremd.
Plomion stand auf, als Nicolas den Wintergarten betrat, aber sein Sohn sah ihn nicht einmal an. Der Seraph setzte zum Sprechen an, schloss dann den Mund und schüttelte traurig den Kopf. Julie war froh darüber, sie wollte nicht dabei sein, wenn Nicolas und sein Vater sich aussprachen. Im Augenblick war es wichtiger, einen Plan zu schmieden. Die erste Frage war: Wie kamen sie zur Insel von Mont St. Michel, ohne aufzufallen?
»Das ist einfach.« Nicolas hatte die Füße auf den Tisch gelegt und balancierte auf den Hinterbeinen
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