Die Prophezeiung der Seraphim
träte er unmittelbar aus der Wand.
»Ist alles in Ordnung?«
»Ja, nur ist mein Wasserkrug leer, und ich habe entsetzlichen Durst.« Ruben räusperte sich, als wäre seine Kehle ausgetrocknet. Er hob den Krug, dessen Inhalt er zuvor aus dem Fenster gekippt hatte.
Villeraux sah den Gang hinauf und hinunter, aber es waren keine Bediensteten zu sehen.
»Wärt Ihr so freundlich?« Ruben drückte seinem Bewacher den Krug an den Bauch, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als ihn festzuhalten.
»Selbstverständlich«, knurrte der Seraph. Seine Zungenspitze zuckte zwischen den Lippen wie bei einer Viper.
»Ich lege mich wieder hin, denn ich fühle mich nicht wohl. Wahr scheinlich habe ich zu viel gegessen.« Ruben gähnte demonstrativ und ließ die Tür zufallen. Villeraux würde bis in die Küche gehen müssen, die sich unterhalb des Refektoriums befand. Ruben lauschte reglos, bis die Schritte verhallten, dann nahm er die Laterne vom Nachttisch, schoss aus dem Zimmer und huschte zur Treppe.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hetzte er die Stufen hinab, voller Angst, jemand könnte ihm entgegenkommen. Währenddessen versuchte er sich an Songes Wegbeschreibung zu erinnern. Zuerst fand er sich in dem Gewirr aus Gängen, Treppen und Kammern des unteren Stockwerks nicht zurecht und war nahe daran umzukehren. Aber dann rief er sich erneut Rheas Gesicht in Erinnerung. Dieses gequälte Wesen war seine Mutter, und es lag an ihm, ob sie erlöst wurde oder bis in alle Ewigkeit leiden musste!
Endlich fand er die Abzweigung, von der Songe gesprochen hatte. Seine Laterne ließ Schatten über Wände und Decken tanzen, während er den Gang entlanghuschte. Am Ende befand sich eine Art runde Nische, und offensichtlich war lange Zeit niemand mehr hier gewesen: allerlei Gerümpel stapelte sich hier und versperrte den Zugang zu den Wandbehängen, hinter denen sich die geheime Pforte befinden sollte. Es war heiß und stickig. Ruben stellte die Laterne auf einem Kistenstapel ab, aber er hatte nicht achtgegeben, und die Laterne kippte um. Mit lautem Klirren landete sie auf dem Boden.
Alles in Ruben verkrampfte sich, und er warf sich auf die Knie, um die Kerze am Verlöschen zu hindern. Wunderbarerweise brannte sie noch. Er steckte sie wieder in ihre Halterung und hoffte, dass die Zugluft sie nicht auspusten würde.
Dann machte er sich daran, das Gerümpel beiseitezuschaffen, immer lauschend, ob sich nicht Schritte näherten. Gerade kletterte er über einen letzten Stapel alter Lehnstühle, da hörte er es Mitternacht schlagen. Mit fahrigen Bewegungen riss er den Wandbehang herunter, eine Staubwolke hüllte ihn ein. Er wedelte mit den Händen vor seinem Gesicht herum, und als der Staub sich gesetzt hatte, suchte er mit den Augen die Wand ab. Es gab keine Tür.
Ungläubig starrte er die grauen Steinblöcke an. Hatte die Katze ihn reingelegt? Wollte Julie ihn dafür bestrafen, dass er die Seiten gewechselt hatte? Noch konnte er vielleicht unbemerkt in seine Kammer zurückkehren. Schon wandte er sich ab, da hörte er ein Scharren. Als wären in der Wand Mäuse zugange. Er drehte sich wieder um, kniete nieder und kratzte mit den Fingernägeln ungefähr an der Stelle, an der er das Scharren gehört hatte. Auf der anderen Seite klopfte es drei Mal. Sie waren da! Dem Geräusch nach trennte sie nur eine dünne Schicht Mauerwerk.
Aufgeregt begann Ruben, die Wand abzutasten, und jetzt merkte er, dass die Steine an dieser Stelle nur dünne Scheiben waren, die man auf den Putz geklebt hatte. Er sah sich um und entdeckte ein abgebrochenes Stuhlbein. Den Wandbehang benutzte er, um den Lärm zu dämpfen, als er es in die Mauer rammte.
Es knirschte, als sie einbrach, und als er den Teppich wegzog, klaffte ein dunkles Loch in der Wand, in dem jetzt Fédérics Gesicht erschien.»Mist, verloren!«, sagte er.
»Was?«
»Ich hab mit Julie gewettet, dass du nicht kommst. Los, machen wir das Loch größer.«
Gemeinsam brachen sie Stücke aus der dünnen Mauer, bis Fédéric durch die Öffnung schlüpfen konnte. Er half Julie, die als Nächste kam, gefolgt von Songe.
Ruben fiel es schwer, seiner Schwester in die Augen zu sehen, aber sie fiel ihm um den Hals. »Ich wusste, dass du kommen würdest«, flüsterte sie in sein Ohr.
Er konnte kaum fassen, dass sie ihm keine Vorwürfe machte.»Ich hab alles falsch gemacht«, murmelte er.
»Wenn nicht, wären wir nie hier reingekommen, Bruderherz.« Julie lächelte ihn an, und auf einmal fühlte er sich
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