Die Prophezeiung der Seraphim
gut wie lange nicht.
Nicolas kam als Letzter. Mit angeekelter Miene klopfte er sich den Schmutz von den Kleidern. »Immer noch genauso voller Spinnen wie früher«, stellte er fest.
»Ist dein Zimmer hier in der Nähe?«, fragte Julie.
»Ja, aber dorthin können wir nicht.«
Flüsternd erzählte Ruben, was seit seiner Ankunft in der Abtei vorgefallen war. Anschließend fasste Julie in aller Eile ihre Erlebnisse zusammen: den Kampf gegen die Cherubim, Javiers Tod und wie sie Plomion gefunden und er die Kristallkanone konstruiert hatte.
»Weißt du, wo die Seelengläser aufbewahrt werden?«, fragte Julie.
»Ungefähr, aber der Erzengel hat den einzigen Schlüssel.«
»Sehen wir uns das Ganze erst mal an«, sagte Fédéric. »Irgendwie muss man da doch reinkommen. Gibt es viele Wachen in der Abtei?«
Ruben verneinte. »Die Seraphim fühlen sich hier ganz sicher.«
»Zu sicher. Na, dann los!«
Fédéric ließ Ruben vorausgehen, und er führte die kleine Gruppe zur Krypta mit den mächtigen Säulen. Als sie schließlich ankamen, ohne jemandem begegnet zu sein, atmete Ruben auf. »Der Eingang ist hier drüben«, flüsterte er.
Seine Schwester und die beiden anderen folgten ihm zwischen den massigen Pfeilern hindurch, bis sie vor der unscheinbaren Tür standen.
»Dahinter sind die Verliese«, sagte Nicolas. »Aber ich war nie dort drinnen.«
»Ich schon«, sagte Ruben schaudernd und dachte an Henri. Wenn alles gut ging, würde sein Freund bald wieder frei sein.
Julie tastete die Tür ab. »Irgendwie müssen wir hinein.«
»Dabei bin ich gerne behilflich«, antwortete eine wohlklingende Stimme.
Ruben fuhr herum. Hinter einem der Pfeiler trat der Erzengel hervor, flankiert von Villeraux und Agenor. Villeraux hob die Hand, und auf einmal konnte Ruben sich nicht mehr bewegen.
Aus den Augenwinkeln sah Ruben Julie, die ebenso erstarrt war wie er selbst, und wahrscheinlich ging es Fédéric und Nicolas nicht besser.
Cal trat auf sie zu, wobei er trübsinnig den Kopf schüttelte. Vor Ruben blieb er stehen. »Ts, ts, was für ungezogene Kinder habe ich in die Welt gesetzt? Nachts herumzuschleichen!« Er wandte sich zu Julie. »Unser Wiedersehen habe ich mir anders vorgestellt, meine liebe Tochter. Agenor, fessle sie, bevor Villeraux’ Kraft erlahmt.«
Schon war der bärtige Seraph mit Seilen zur Stelle. Er fesselte erst Ruben, dann Julie, wozu Villeraux’ die Erstarrung nur so weit lockerte, dass Agenor ihnen die Arme auf den Rücken ziehen konnte.
Julie, du kannst ihre Gefühle beeinflussen!, vernahm er Songe, die sich außerhalb seines Blickfeldes befand.
Plötzlich taumelte Villeraux. Blaues Licht umfloss ihn, er kauerte sich wimmernd auf den Boden und versuchte, hinter einen Pfeiler zu kriechen. Und Ruben konnte sich wieder bewegen!
Gut so, jag ihnen ordentlich Angst ein!
Jetzt wich auch Agenor zurück. Ebenfalls in blaues Licht getaucht, zog er sein Schwert und drehte den Kopf hin und her, als suchte er nach einer Bedrohung.
Allein der Erzengel blieb ungerührt. »Nicht schlecht«, sagte er anerkennend, streckte die Hand aus und berührte Julies Stirn. Augenblicklich brach sie zusammen.
Ruben hörte ein Brüllen, und als er sich umdrehte, sah er Fédéric auf Cal zustürmen. Er rammte dem Erzengel seinen Kopf in den Bauch und beide stürzten zu Boden. Inzwischen hatte die Wirkung von Julies Magie auf Villeraux offensichtlich nachgelassen, denn Ruben war wieder unfähig, sich zu bewegen, und auch Fédéric lag erstarrt am Boden.
Doch Villeraux hatte nicht an Songe gedacht. Die Katze kam aus dem Nichts und schnellte ihm ins Gesicht. Er kreischte, Blut rann über sein Kinn, dennoch gelang es ihm, die Erstarrung weiter aufrecht zu halten. Schließlich konnte er Songe abschütteln, indem er ihr den Hals zudrückte. Die Katze fauchte, sprang auf den Boden und verschwand in den Schatten der Krypta. Villeraux’ Gesichtshaut hing in Fetzen herab, er war blutüberströmt, achtete jedoch gar nicht darauf. Der Erzengel hatte sich wieder erhoben. Er zog den gläsernen Schlüssel hervor und öffnete die Tür zu den Verliesen, dann befahl er Agenor, Fédérics Knöchel zu fesseln und ihn sich über die Schulter zu werfen. Er selbst nahm Julie, die immer noch ohnmächtig war, und Villeraux stieß Ruben vor sich her, dessen Erstarrung er an den Beinen gerade so weit lockerte, dass er kleine Schritte machen konnte.
»Um meinen Sohn kümmere ich mich!« Elisabeth d’Ardevon glitt hinter einem Pfeiler hervor.
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