Die Prophezeiung der Seraphim
langsam runde Formen aus dem Zwielicht, und dann stand sie am Fuß eines Hügels aus gläsernen Kugeln, der fast ein Drittel des Raums einnahm und so hoch war wie ein zweistöckiges Haus. Es wirkte, als hätte ein Riese seinen Murmelsack ausgeleert. Sie streckte die Hand aus und berührte eine der Kugeln. Das Glas war so dunkel, dass sie nicht hineinsehen konnte.
»Rizinus und Mäuseköttel«, sagte Fédéric, der ihr gefolgt war und nun neben ihr stand, ehrfürchtig. »Sind das die Seelengläser?«
»Seht euch das an!« Ruben hatte eine der Kugeln, die etwa so groß war wie sein Kopf, aufgehoben und drehte sie hin und her. »Da ist etwas draufgeschrieben.«
Julie nahm die Kugel entgegen, die erstaunlich schwer war. Tatsächlich, wenn man die Kugel in einen bestimmten Winkel drehte, wurde eine spinnenfadenfeine Schrift sichtbar.
»Phoibe«, flüsterte Julie. Bei der Vorstellung, dass sie eine lebende Seele in der Hand hielt, wurde ihr das Atmen schwer. Sie wollte die Kugel wieder ablegen, aber Fédéric nahm sie ihr aus der Hand. »Die sollen unzerstörbar sein? Das ist doch nur Glas.«
Bevor Julie ihn daran hindern konnte, holte er aus und schleuderte die Kugel quer durch den Raum. Mit einem schrecklichen Knirschen krachte sie auf den Boden und rollte gegen die Wand.
Julie holte sie zurück und hielt sie Fédéric hin. »Willst du noch mal?«, fragte sie ironisch.
»Sie hat nicht mal einen Sprung.« Mit ehrfürchtiger Miene nahm er die Kugel und drehte sie hin und her.
Ihr verschwendet Zeit, mischte sich Songe ein. Ihr solltet Rheas Seelenglas finden.
»Das sind Hunderte, es wird Stunden dauern, alle durchzusehen«, stöhnte Julie.
»Dann machen wir uns besser an die Arbeit.« Ruben zog eine der Kugeln aus dem Haufen.
»Nicht!«, schrie Julie, doch da war der Berg schon ins Rollen gekommen. Die Kugeln kollerten und sprangen übereinander, eine sauste haarscharf an Julies Kopf vorbei. »Vorsicht!«, rief sie, packte Ruben am Ärmel und zog ihn mit sich auf den Tunnel zu. Fédéric wartete schon am Eingang und winkte ihr, sich zu beeilen. Hinter sich hörte Julie die Kugeln einschlagen, dann glitt sie in die Röhre, das Getöse und das donnernde Echo der Seelengläser im Rücken. Ihr Schwung trug sie beinahe bis ins Verlies zurück, und kaum hatte sie den Tunnel verlassen, erschienen Ruben und Fédéric, gefolgt von Songe.
»Das war sehr knapp.« Julies Hände zitterten und sie presste sie gegen ihre Brust.
»Du Vollidiot«, fuhr Fédéric Ruben an, und Julie stimmte ihm aus tiefstem Herzen zu. Vorhin hatte sie sich ihm so nah gefühlt, aber durch seine Unüberlegtheit hatte er wieder einmal alles zerstört.
»Entschuldigung«, sagte er kleinlaut.
»Das nutzt uns wenig.« Fédéric spuckte ihm vor die Füße. »Wenn das die Seraphim nicht gehört haben, müssen sie taub sein.«
»Es macht keinen Unterschied«, sagte Julie müde. »Wir haben so viel Magie benutzt, dass sie es längst gemerkt haben müssen.«
Das glaube ich nicht, sagte Songe. Hier in der Abtei ist alles so von Magie durchdrungen, dass sie vielleicht nicht auf uns aufmerksam geworden sind.
Als nach einiger Zeit das Poltern verklang, kehrten sie in die Zisterne der Seelengläser zurück, wo die Kugeln sich nun über den ganzen Boden verteilt hatten. Vorsichtig bewegten sie sich zwischen ihnen hindurch.
»Wir müssen uns jede Kugel ansehen, bis wir die unserer Mutter finden«, sagte Julie.
»Das kann Tage dauern!« Ruben klang noch immer kleinlaut. »Bevor wir die Richtige finden, hat der Erzengel uns längst entdeckt.«
Fédéric sah nach oben. »Bleibt außerdem die Frage, wie wir danach hier hinauskommen.«
Julie folgte seinem Blick. Er hatte recht, die Wände waren glatt wie Glas und die Öffnungen in der Decke, ohnehin zu klein, um einen Menschen durchzulassen, lagen unerreichbar hoch über ihren Köpfen.
»Flügel müsste man haben«, murmelte Ruben.
»Das war’s dann wohl.« Fédéric setzte sich und kreuzte die Beine. »Wir müssen warten, bis der Erzengel uns hier herausholt.«
»Es sei denn, wir brennen Löcher in die Wand«, sagte Ruben plötzlich. »Die könnten wir als Leiter benutzen.« Er sah Julie erwartungsvoll an.
»Wir sollten sparsam mit der Kraft aus den Amuletten umgehen, wir wissen nicht, wie viel wir noch für die Zerstörung der Seelengläser benötigen.«
»Wenn wir hier unten bleiben, werden wir dazu keine Gelegenheit bekommen«, erwiderte Ruben. »Wir haben einen Tunnel in Fels geschmolzen, da wird
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