1189 - Hexen-Wahrheit
»Ich gehe hoch«, sagte Jane Collins. »Gute Nacht, Sarah…«
Sarah Goldwyn, die Horror-Oma, stellte den Ton des Fernsehers ab. Auf dem Bildschirm bewegte sich nur noch der grell geschminkte Mund einer dunkelhaarigen Frau.
»Moment noch, Jane.«
»Ja.«
Sarah seufzte so laut, dass Jane Collins es hören konnte. Obwohl die ältere Frau lächelte, sah sie alles andere als glücklich aus. »Ich habe es dir schon seit einigen Tagen sagen wollen, aber der Zeitpunkt war irgendwie nicht da. Außerdem bist du erwachsen, Jane. Aber gleichzeitig könntest du auch meine Tochter sein. Nun ja, so wie wir hier in einem Haus zusammenleben.« Sie lächelte und nahm die Brille ab, die zwischen ihren Perlenketten hängen blieb. »Um es kurz zu machen, Jane. Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Ach.« Jane wusste im Moment nicht, was sie sagen sollte. Als der Blick sie nicht losließ, hob sie die Schultern. »Warum denn? Warum machst du dir Sorgen?«
»Du bist irgendwie anders geworden, Jane. Kein Vergleich mehr zu früher, verstehst du?«
»Früher?«
»Entschuldige. Ich meine in den letzten Tagen. Da ist mir schon deine Veränderung aufgefallen. Nicht äußerlich. Da siehst du noch so aus wie sonst. Aber sonst…«
Jane Collins begann zu lachen. Echt klang es nicht. »Nein, nein, du musst dich irren«, sagte sie in das Lachen hinein. »Ich bin die Gleiche geblieben.«
»Hm.« Lady Sarah blieb leicht gedreht sitzen. »Komisch, aber das kann ich dir nicht glauben. Ich will hier nicht mein Alter in die Waagschale werfen. Jeder von uns hat seine Erfahrungen sammeln können, aber da ich einige Jahre mehr auf dem Buckel habe, sehe ich gewisse Dinge schon mit anderen Augen an.«
Jane nickte. »Welche denn?«
»Deine Bedrückung.« Sarah schaltete die Glotze ganz aus. »Seit drei Tagen stört es mich. Ich habe dich nie gefragt, denn du bist ein eigenständiger Mensch, aber ich habe Augen im Kopf, und ich glaube, dass dich etwas beschäftigt, das nicht nur unbedingt positiv ist. Du kannst mich auslachen oder mich eine alte Schwarzmalerin und Spinnerin nennen, aber was ich gesehen habe, das sehe ich. Und wir kennen uns lange genug. Wir sollten Vertrauen zueinander haben. Vor allen Dingen deshalb, weil wir schon so einiges erlebt haben, über das die normalen Menschen nur die Köpfe schütteln. Du kannst jetzt sagen: Lass die Alte weiterhin spinnen, aber ich bin fast davon überzeugt, dass du dies nicht tun wirst. Oder ich vergesse meine Menschenkenntnis.«
Jane, die schon an der Tür stand, traf keine Anstalten, den Raum zu verlassen. Stattdessen war sie noch nachdenklicher geworden. Sie schaute auch Lady Sarah nicht mehr an, sondern hielt den Blick zu Boden gerichtet.
Die Horror-Oma setzte sie nicht unter Druck. Sie konnte warten und lehnte sich wieder zurück in ihren alten Ohrensessel. So wirkte sie wie eine Märchen-Oma, die auf ihre Enkelkinder wartete, um ihnen Geschichten zu erzählen. Sie trug ein brombeerfarbenes Wollkleid, das bis über die Waden reichte und bei dem die hellen Knöpfe auffielen. Das graue Haar war sorgsam frisiert. Am Hinterkopf wurde es von zwei Spangen zusammengehalten, und natürlich fehlten bei Sarah auch die vier Ketten in den unterschiedlichsten Farben nicht. Sie waren gewissermaßen ihr Markenzeichen.
Lady Sarah war so um die Siebzig. Trotzdem wirkte sie irgendwie alterslos. Das lag daran, dass sie mit beiden Beinen mitten im Leben stand, und dieses Leben eignete sich nicht eben für eine Rentnerin. Der Spitzname Horror-Oma kam nicht von ungefähr, denn die vierfache Witwe hatte die Gabe, immer wieder in ein dämonisches Fettnäpfchen zu treten, was ihr ungemein Spaß machte, auch wenn sie sich mehr als einmal damit in Lebensgefahr gebracht hatte. Aber sie war auch ein Sonntagskind und hatte bisher alles überstanden.
Zudem hatte sie Zeit genug, ihre Hobbys zu pflegen. Sie interessierte sich für alles Übersinnliche.
Die Sammlung an Büchern, Aufzeichnungen und Texten war berühmt. Es gab kaum ein Problem, bei dem Lady Sarah nicht helfen konnte. Der Dachboden des Hauses war zu einem gewaltigen Archiv ausgebaut worden, und Jane Collins hatte für eine Modernisierung gesorgt und auch ein elektronisches Archiv angelegt.
Trotz des Altersunterschieds verstanden sich die beiden Frauen gut, denn sie hatten die gleichen Interessen.
Jetzt stand das Schweigen wie die berühmte unsichtbare Wand zwischen ihnen. Jane Collins, das war zu sehen, fühlte sich leicht unbehaglich. Ein paar Mal strich sie mit
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