Der Duft von Orangen (German Edition)
1. KAPITEL
Orangen .
D er Duft von Orangen stieg mir in die Nase. Ich legte eine Hand auf die Lehne des Stuhls, der mir am nächsten stand, und ließ meinen Blick auf der Suche nach einem Obstkorb über den Tresen gleiten. Nach irgendetwas, das den Geruch erklärte, der in diesem Coffeeshop so fehl am Platz war wie ein Weihnachtsmannkostüm am Strand. Ich konnte jedoch nichts entdecken und atmete tief ein. Schon vor langer Zeit hatte ich gelernt, dass es sinnlos war, den Atem anzuhalten.
Es ist leichter, wenn ich einfach weiteratme … es hinter mich bringe …
Der Geruch verschwand schnell wieder. Ein paar Sekunden lang konnte ich ihn noch wahrnehmen, dann wurde er von dem starken Duft von Kaffee und Gebäck verdrängt. Ich hatte an einer Stuhllehne Halt gesucht, aber ich brauchte die Stütze nicht mehr. Bevor ich den Stuhl losließ, sah ich mich kurz um und ging dann die wenigen Schritte bis zur Ecke des Tresens, wo ich Sahne und Zucker in meinen Kaffee gab.
Meine letzte Episode war schon lange her.
Episoden , so nannte ich die Blackouts, die mich seit Kindertagen ganz plötzlich und unerklärlich überfielen. Oft waren sie begleitet von Halluzinationen, kleinen Traumsequenzen, die mir in dem Moment jedoch meistens vollkommen real erschienen. Die letzte Episode vor zwei Jahren war auch nur sehr oberflächlich gewesen, aber die Tatsache, dass diese hier kaum mehr als einen Wimpernschlag gedauert hatte, beruhigte mich nicht. Es hatte Zeiten in meinem Leben gegeben, in denen die Episoden mich schnell und oft übermannt und vollkommen handlungsunfähig gemacht hatten. Es wäre zu viel verlangt, zu hoffen, sie würden ganz verschwinden. Aber auf keinen Fall wollte ich diese Zeiten noch einmal erleben.
„Hey, Süße! Hallo!“, rief Jen aus der Nische direkt neben der Eingangstür. Sie winkte. „Hier bin ich!“
Ich winkte zurück und schnappte mir einen Löffel zum Umrühren, bevor ich mir einen Weg durch die Stühle und Tische suchte und mich Jen gegenüber setzte. „Hey.“
„Oh, was hast du da?“ Jen beugte sich vor, um in meinen Becher zu schauen, als wenn sie dadurch sehen könnte, was ich bestellt habe. Sie schnupperte. „Swiss Chocolate?“
„Nah dran. Chocolate Delight.“ Das war eines der beiden Tagesangebote des Coffeeshops. „Mit einem Schuss Vanillesirup.“
Jen schnalzte anerkennend mit der Zunge. „Mhhm, klingt lecker. Mal sehen, was ich heute nehme. Ach ja, was hast du zu essen?“
„Einen Blaubeermuffin. Eigentlich wollte ich den Schoko-Cupcake nehmen, aber dann dachte ich, das ist vielleicht etwas zu viel des Guten.“ Ich zeigte ihr meinen Teller mit dem Muffin.
„Zu viel Schokolade meinst du? Das gibt es gar nicht. Bin gleich wieder da.“
Ich rührte in meinem Kaffee, um den Sirup, den Zucker und die Sahne zu verteilen, nippte daran und genoss die extreme Süße, die nur wenige Menschen mochten. Jen hatte recht: Ich hätte den Cupcake nehmen sollen.
Jen hatte den falschen Moment gewählt, um sich in die Schlange einzureihen. Die Kunden standen in Viererreihen bis zur Eingangstür. Sie warf mir einen genervten Blick zu und zuckte dabei mit den Schultern. Ich konnte nur mitfühlend lächeln.
Bei meiner Ankunft war der Coffeeshop noch ziemlich leer gewesen, weil sich viele Gäste erst einmal einen Tisch gesucht hatten, bevor sie sich anstellten. Ich winkte Carlos zu, der in einer Ecke saß, aber er hatte seinen Laptop vor sich, trug Kopfhörer und reagierte nicht. Carlos arbeitete an einem Roman. Er saß jeden Morgen von zehn bis elf Uhr hier im Mocha , bevor er sich zu seiner Arbeit aufmachte. An Samstagen wie heute blieb er auch gerne einmal länger.
Lisa, deren Rucksack zum Bersten mit Büchern vollgestopft war, setzte sich ein paar Tische entfernt von mir hin und winkte mir zur Begrüßung kurz zu, während Jen mir mit hektischen Bewegungenzu verstehen gab, dass ich sie ignorieren solle. Lisa verdiente sich ihr Jurastudium mit dem Verkauf von Spicefully Tasty -Produkten. Mir machte es nichts aus, dass sie ab und zu versuchte, uns etwas zu verkaufen, aber Jen konnte sie auf den Tod nicht ausstehen. Heute schien Lisa jedoch beschäftigt zu sein. Sie konzentrierte sich ganz darauf, ihre Bücher und einen Block herauszuholen, und spielte bereits nervös mit ihrem Kuli, während sie noch den Mantel auszog.
Wir waren die Stammkunden des Mocha . Es war fast wie eine Art Club. Wir trafen uns morgens vor der Arbeit, abends auf dem Weg nach Hause und an den Wochenenden. Dieser
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