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Die Prophezeiung der Seraphim

Die Prophezeiung der Seraphim

Titel: Die Prophezeiung der Seraphim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mascha Vassena
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»Vielleicht ist das, was er vorhat, ja gut. Die meisten Leute sind doch froh, wenn ihnen jemand sagt, wo es lang geht.«
    »Hast du eigentlich keine Augen im Kopf?«, unterbrach ihn Fédéric. »Die Leute haben genug davon, sich gängeln zu lassen.«
    »Du musst dich schon entscheiden, auf wessen Seite du stehst«, sagte nun auch Nicolas. »Ziehst du es etwa vor, dich wieder an den Rockzipfel meiner Mutter zu hängen?«
    Ruben scharrte mit der Schuhspitze ein Häufchen Dreck zusammen, dann blickte er auf. »Ich komme lieber mit euch.«
    Julie nickte, aber sie spürte, dass Ruben nicht ganz ehrlich war. Sie würde mit ihm sprechen, wenn sie außerhalb der Stadt waren. Dann würde er verstehen.
    Sie löschten eine der beiden Laternen und versuchten, zu schlafen. Es gelang Julie, in einen unruhigen Dämmerschlaf zu sinken, doch sie schreckte nach kurzer Zeit wieder auf. Ein kühler Hauch strich durch die Kammern und Gänge, und manchmal vermeinte sie, etwas zu hören, doch als sie lauschte, verschwand diese Ahnung eines Geräuschs. Fédéric war ebenfalls wach. Sie legte ihre Hand auf seine, und sie lächelten sich an. Julie wusste, dass er gut auf sie aufpassen würde. Sie sah zu Nicolas hinüber, der im Schlaf seine überhebliche Miene verloren hatte. Auch Ruben schlummerte tief, und Julie betrachtete ihn gerührt. Er wirkte schutzbedürftig, und sie konnte nicht anders, als ihn als kleinen Bruder zu sehen, obwohl sie gleich alt waren. Bisher wusste sie nichts über ihn, aber bald würden sie Zeit haben, miteinander vertraut zu werden. Nach diesen beruhigenden Gedanken fielen auch ihr die Augen zu.
    Sie hatte keine Vorstellung davon, ob der nächste Tag bereits angebrochen war, als sie wieder aufbrachen. Immer tiefer drangen sie in das Labyrinth vor, durchschritten endlose Korridore und weitere Knochenkammern. In einer von ihnen stand sogar ein Altar, ganz aus Gebeinen errichtet, Kerzenstümpfe klebten auf den Schädeln, die ihn flankierten. In einer anderen Kammer hatte jemand ein Gerippe vollständig zusammengesetzt und an die Wand gehängt. Sie kamen an Mauernischen vorbei, in denen nur Steißbeine lagerten oder ausschließlich Kinderschädel. Julie verlor bald ihre Furcht und dachte an das Leben derer, die hier versammelt waren, unberührt von dem, was oben in der Stadt vor sich ging – der Gedanke hatte etwas seltsam Tröstliches.
    Trotzdem hätte sie beinahe aufgeschrien, als einer der Totenschädel sich plötzlich bewegte. Eine Ratte kroch darunter hervor, und die Gebeine klickten leise, als sie auf dem Knochenstapel entlanglief. Julie schauderte, nahm Songe auf den Arm und beeilte sich, die anderen einzuholen, die bereits im nächsten Raum waren. Wie Fédéric gesagt hatte, konnten sie sich an den Hinweisen der Steinmetze orientieren, doch je weiter sie vordrangen, umso spärlicher wurden die in den Fels gekratzten Pfeile und Straßennamen.
    Jetzt durchquerten sie Räume, in deren Wände Nischen gehauen waren. Alle waren leer.
    »Katakomben«, flüsterte Nicolas. »Sie müssen uralt sein.«
    Ein Schauer überlief Julie. Wohin waren die Toten verschwunden? Oder hatte hier niemals jemand seine letzte Ruhe gefunden? Sie schloss zu Fédéric auf, der mit seiner Laterne voranging, und zupfte ihn am Hemd. »Weißt du denn auch, wie und wo wir wieder herauskommen?«
    »Wo ein Eingang ist, gibt es auch einen Ausgang.«
    »Du bist reichlich zuversichtlich, Guyot«, sagte sie, und es tat ihr gut, Fédérics vertrautes Grinsen zu sehen.
    »Ich lebe lieber für immer als Maulwurf, als noch mal einem dieser Monster zu begegnen.«
    »Seid still!« Nicolas hatte die Hand nach ihnen ausgestreckt und lauschte.
    Nun hörte Julie es auch: eine Art an- und abschwellendes Zischen, an der Grenze zum Unhörbaren.
    »Was ist das?« Sie hielt den Atem an, um das Geräusch besser hören zu können.
    Nicolas zuckte mit den Achseln. Da es an dieser Stelle keine Abzweigungen gab, gingen sie schließlich weiter, schirmten aber vorsichtshalber ihre Laternen ab. Der nächste Raum – eher ein breiter Korridor – war so lang gezogen, dass sie die gegenüberliegende Seite in der schwachen Beleuchtung nicht erkennen konnten. Julie atmete auf. Die Gänge waren beklemmender, als sie zugeben wollte. Sie lief weiter, und plötzlich drang ein so entsetzlicher Geruch in ihre Nase, dass ihr übel wurde. Sie atmete flach durch den Mund, während sie sich umsah.
    Neben ihr schrie Ruben auf, dann taumelte er gegen sie und hätte sie beinahe zu Boden

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