Die Prophezeiung der Seraphim
wie wahnsinnig mit den Flügeln. Eines fand den Weg durch die Rückwand; Julie warf ihm geistesgegenwärtig ihren Rock über und hielt es durch den Stoff hindurch fest. Als sie wieder in das Gehege blickte, hatte es dort Federn zu schneien begonnen.
Noch immer bellte der Hund und brüllte die Bäuerin, als endlich Fédéric und Ruben, bekleckert mit Ei und Federn, nach draußen rutschten. Sie rappelten sich auf und rannten, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her. Julie klemmte sich das zappelnde Huhn unter den Arm und rannte mit. Sie sah sich nicht um, war aber in großer Versuchung, ein Stoßgebet zum Himmel zu schicken, dass die Männer auf dem Feld das Getöse nur nicht gehört hatten.
Als sie unbehelligt die ersten Bäume erreichten, atmete sie kurz durch. Doch sie hielten sich nicht auf, sondern liefen in einem gro ßen Bogen zu der Stelle zurück, wo Nicolas sie erwartete. Grinsend, mit verschränkten Armen an einen Baum gelehnt, fragte er: »Sehr unterhaltsam, eure kleine Vorstellung. Und, wo sind die Eier?«
Julie funkelte ihn nur an und lief an ihm vorbei. Hinter sich hörte sie Fédéric sagen: »Nicht zwischen deinen Beinen, Puderquaste.«
»Wenn du auch nur annähernd satisfaktionsfähig wärst, würde ich dich dafür zum Duell fordern, Hosenscheißer«, erwiderte Nicolas.
Gleich darauf ächzte er, und als Julie sich umdrehte, sah sie, wie die beiden Streithähne sich auf dem Boden wälzten. Ruben stand hilflos daneben.
»Seid ihr denn völlig von Sinnen!« Julie drückte Ruben das Huhn in den Arm, war mit zwei Schritten bei den Kämpfenden, packte sie an jeweils einem Ohr und zog sie auseinander. »Wir müssen hier weg, falls euch noch genug Hirnschmalz verblieben ist, um das zu verstehen!«
»Und du, steh nicht so blöd herum!«, fuhr sie Ruben an. »Du hast uns den ganzen Ärger eingebrockt!«
Sie ließ Nicolas und Fédéric los und setzte sich wütend in Bewegung. Aus dem Gebüsch am Wegrand huschte Songe und sprang ihr auf den Arm.
Was für ein Aufruhr .
Ruben hat wieder einmal gehandelt, ohne vorher nachzudenken, grollte Julie.
Julie wusste nicht, wohin sie lief, sie folgte einfach dem schmalen Waldweg. Keiner der Jungen wagte, das Wort an sie zu richten. Erst nachdem sie das Tal mit dem Bauernhof weit hinter sich gebracht hatten, blieb sie stehen. Der Hunger, den die Aufregung vorübergehend überlagert hatte, wühlte nun mit doppelter Stärke in ihrem Bauch.
»Ich kann nicht mehr.« Sie setzte sich auf einen umgestürzten Baum.
Sie wollte nur noch nach Hause, obwohl sie genau wusste, dass sie kein Zuhause mehr besaß. Aber der Vorfall auf dem Hof hatte all ihre Zuversicht zerstört, und es erschien ihr vollkommen wahnsinnig, dass sie jemals geglaubt hatte, gegen den Erzengel kämpfen zu können. Sie legte die Stirn auf die Knie und schloss die Augen.
Jemand legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Na, komm schon«, sagte Fédéric. »Wir vertragen uns auch, ich verspreche es dir. Und Nicolas auch. Oder, Nicolas?«
Sie hob den Kopf. »Von mir aus könnt ihr euch gegenseitig den Schädel einschlagen«, sagte sie. »Aber seht uns doch an: Wir sind beinahe gescheitert – an einem Hund und einer Bauersfrau! Wie können wir uns da einbilden, die Seraphim besiegen zu wollen! Ich kann ja nicht mal meine Gabe benutzen, ohne beinahe bewusstlos zu werden!«
Die drei Jungen schwiegen betreten. Julie spürte eine zarte Berührung am Bein. Es war Songe, die sie mit der Pfote anstupste. Wir haben noch eine lange Reise vor uns. Du wirst lernen, deine magischen Kräfte zu kontrollieren. Du wirst stärker werden. Und dein Bruder auch.
Ich will, dass alles wieder so ist wie früher, antwortete Julie .
Songes Bernsteinaugen sahen sie reglos an. So wird es nie wieder sein, sagte die Katze. Denk niemals an das, was unwiederbringlich vergangen ist, denn du wirst es nicht zurückerhalten.
Julie schwieg, dann atmete sie tief ein und sah die anderen an, die noch immer mit ratlosen Gesichtern um sie herum standen. Ihr Bruder hielt das Huhn hoch, dem er inzwischen den Hals umgedreht hatte.
Julie musste lachen. »Eier haben wir zwar keine, aber satt werden wir heute Abend trotzdem. Suchen wir uns einen Platz, wo wir das Federvieh in Ruhe braten können.«
»Mmh, köstlich«, sagte Fédéric eine gute Weile später und leckte sich das Fett von den Fingern. »Ruben hat uns zwar fast umgebracht, aber er hat auch dafür gesorgt, dass wir unsere Mägen füllen konnten.« Er zuckte zusammen, als ein Knochen
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