Die Prophezeiung der Seraphim
auf einmal vor Wut blitzten. Er hatte bestimmt viel Schlimmeres erlebt als sie, die immer jemanden gehabt hatte, der für sie sorgte.
»Ich hasse es, hungrig zu sein«, brach es aus ihr heraus. »Ich hasse es, schmutzig zu sein und auf dem Boden zu schlafen. Ich will mich satt essen und in einem richtigen Bett schlafen. Und ich will ein Bad nehmen.« Sie wusste, dass sie sich wie ein kleines Kind benahm, aber sie konnte nicht anders.
Gabrielle hatte einmal im Monat kesselweise Wasser aufgekocht und für sie in den Zuber geschüttet, den Jacques zu diesen Anlässen in die Küche getragen hatte, um sich dann diskret zurückzuziehen. Julie hatte sich im Wasser geaalt, während Gabrielle ihr die Haare gewaschen hatte. Dabei hatten sie fröhlich über Dinge geplaudert, für die im Alltag keine Zeit war. Manchmal hatte Gabrielle von ihrer Kindheit in der Provence erzählt, oder wie sie als Dienstmädchen nach Paris gekommen und Jacques begegnet war, als sie für ihre Herrschaft eine Uhr abholen sollte.
Julie hatte diese kostbaren Stunden geliebt, in denen ihre sonst so emsige Mutter ganz ihr allein gehörte. Die Erinnerung schnürte ihr den Brustkorb zusammen.
»Du siehst gar nicht so schlimm aus«, sagte Fédéric zaghaft. »Ein bisschen wie eine Waldelfe oder so was.«
»Pah!« Julie schnaubte. Wenn sie ihn und die anderen betrachtete, konnte sie sich vorstellen, wie schmutzig und zerzaust sie selbst wirkte. Sie hatten sich seit über einer Woche nur notdürftig gewaschen und rochen streng, ihre Kleider waren schmutzig und von Dornen zerrissen, ihre Haare fettig. Alles andere als elfenhaft.
»Gehen wir«, sagte sie müde.
Als sie wieder an den Hühnern vorbeikamen, blieb Ruben plötzlich stehen.
»Wartet mal«, sagte er.
Julie drehte sich nach ihm um. »Gehen wir, vielleicht haben wir woanders mehr Glück.«
»Nein.« Ruben blieb stur. »Die haben genug zu essen, es ist nur gerecht, wenn sie uns was abgeben.«
»Aber wenn sie nun einmal nicht wollen?«
»Dann werden wir uns nehmen, was uns zusteht.«
Er machte sich an der Tür des Hühnergatters zu schaffen. Julie eilte zurück und packte ihn am Arm. »Komm sofort mit!«, befahl sie, aber er schüttelte den Kopf.
»Von mir aus kannst du gerne verhungern, wenn du willst. Aber ich tue das sicher nicht.«
»Ich finde, er hat recht«, mischte sich Fédéric ein. »Ein paar Eier weniger, das merken die doch gar nicht.«
»Und wenn wir noch lauter schreien, wird der Hofhund schnel ler hinter uns her sein, als ihr ein Ei aufschlagen könnt«, sagte Julie. Dann ließ sie jedoch ihren Arm sinken. Bei dem Gedanken an Essen lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie nickte Ruben zu, dann schlichen sie sich gemeinsam auf die Rückseite des Gatters, wo die Jungen sich daranmachten, ein Brett aus dem hohen Zaun zu brechen.
Julie hatte ein schlechtes Gewissen, das beim Gedanken an die Unfreundlichkeit der Bäuerin allerdings etwas gemildert wurde. Bald half sie mit, ein zweites Brett zu lockern. Ruben als der Schmalste wand sich durch die Öffnung. Sofort ertönte dahinter mehrstimmiges Gackern und einige Federn stoben aus der Öffnung, dann hörte man Ruben fluchen. »Ich hänge irgendwo fest!«
In diesem Moment drang vom Bauernhaus her das Kläffen des Hofhundes herüber, kurz darauf klappte eine Tür.
»Ruben, beeil dich!«, zischte Julie.
Schon näherten sich Schritte.
»Ich komme nicht los!«
»Das darf doch nicht wahr sein!« Fédéric trat gegen das Gatter, dass das Holz splitterte, dann kroch er ebenfalls in die Umzäunung hinein. Die Schritte hielten inne. »Platz, Grappin!«, erklang die Stimme der Bäuerin. »Was ist da los?«
Julie hörte eine Kette klirren. Sie starrte durch das Loch zwischen den Brettern und sah, wie auf der anderen Seite des Hühnergeheges das Tor geöffnet wurde. Ruben und Fédéric erstarrten, als sich Grappins breiter Kopf durch den Spalt schob, was die Hühner erneut aufstieben ließ. Gleich darauf kreischte die Frau: »Diebe! Wartet nur, der Hund wird euch die Kehle rausreißen! Grappin, fass!« Sie trat zur Seite und löste die Kette des Hundes, der in den Stall schoss wie aus einer Kanone abgefeuert.
Doch statt sich auf die Eindringlinge zu stürzen, machte der Hund sich knurrend über die Hühner her. Der Lärm war unbeschreiblich: Die Bauersfrau schimpfte und brüllte, drang aber nicht mehr zu dem Tier durch, das sich im Paradies wähnte. Die Hühner prallten auf der Suche nach einem Ausweg gegen das Gatter und flatterten
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