Die Quelle
Antidepressiva, die in ihrem Nachttisch darauf
warteten, ihr Trost spenden zu dürfen. Nein… Diesmal nicht! Jetzt war die
Zeit gekommen, auf sich selbst zu vertrauen und nicht länger ihre Tochter
zu fürchten… Trotz ihrer Bedenken klopfte sie vorsichtig an, eine Antwort
erhielt sie jedoch nicht. Wahrscheinlich war es unmöglich gewesen, das
leise Pochen an der Tür von den lauten Bässen zu unterscheiden. Sie
versuchte es erneut, diesmal lauter.
„Lisa?“, rief sie ihre Tochter vergebens.
Sandra fröstelte plötzlich. Was, wenn sie es
doch noch nicht überstanden hatten? Sie atmete tief durch, um ihre Angst
zu überwinden, und drückte die Türklinke herunter. Als sie die
Tür um einen Spalt breit öffnete, dröhnte ihr die Musik derartig
laut entgegen, dass es ihr den Brustkorb zusammenschnürte und ihr die Luft
zum Atmen nahm. Der Blick in das Zimmer war es jedoch, der sie plötzlich
erstarren ließ. Düstere Erinnerungen wurden wach. Lisa lag
zusammengekauert auf ihrem Bett und rührte sich nicht. Ihre Augen waren
geöffnet, doch sie starrten angsterfüllt in die Leere.
Wie lange sie tatenlos an der Tür stehen geblieben
war, wusste Sandra nicht, doch als sie endlich in das Zimmer hineinging,
bewegte sie sich wie in Trance. Sie war auf alles gefasst. Als erstes stellte
sie die Musik ab, dabei behielt sie jedoch Lisa misstrauisch in ihrem
Blickfeld. Erleichtert nahm sie die plötzliche Stille wahr, ehe sie sich
vorsichtig zu Lisa ans Bett setzte.
„Lisa?“
Noch immer war Lisas Blick leer, doch ihr Atem ging etwas
schneller. Hatte sie Sandra gehört, oder war es nur Zufall?
„Lisa, was ist los mit dir? Sag etwas!“
Lisa presste die Lippen zusammen, ihr Atem wurde
unregelmäßig. Sie schluckte und schließlich antwortete sie mit
leiser, weit entrückter Stimme.
„Hörst du es?“
Sandra runzelte die Stirn, unsicher darüber, was
ihre Tochter meinte.
„Was, Lisa? Was sollte ich hören?“
„Ich kann nicht… Es lähmt mich…“
Sandra wäre am Liebsten aus dem Zimmer gerannt, doch
sie schaffe es, gegen ihre Angst anzukämpfen. Zumindest das schuldete sie
ihrer Tochter.
„Lisa, du musst dich wehren! Du bist mächtiger als
sie, das hast du doch schon bewiesen! Kämpfe!“
„Ich kann mich nicht wehren… Ich…“
Lisas Lippen bewegten sich noch, doch kein Ton
verließ mehr ihre Kehle. Ihr Körper entspannte sich und
plötzlich fielen ihre Augen zu, als sei sie eingeschlafen. Ein leichtes
Lächeln zeichnete sich auf Lisas Lippen und ihr Atem wurde ruhig…
„Lisa! Wach auf!“
In ihrer Verzweiflung schüttelte Sandra Lisas
Körper, unerlässlich rief sie dabei ihren Namen, doch Lisa wachte
nicht mehr auf… Ihr Herz schlug nur noch langsam, das Lächeln wich nicht
mehr von ihren Lippen. Es wirkte, als hätte sie in diesem
unnatürlichen Schlaf Frieden gefunden.
*
Woher diese Klänge kamen, wusste Lisa nicht, doch
sie erinnerte sich genau daran, wann sie sie zum ersten Mal gehört hatte…
Es war an dem Tag, als sie entdeckt hatte, dass sie fühlen konnte, was
andere Menschen empfanden. Natürlich hatte sie sich erst davor
gefürchtet, diese klirrenden Töne zu hören, die sonst niemand
wahrnahm, doch bald schon hatte sie verstanden, was sie bewirkten. Lisa hatte schnell
gelernt, wie sie die chaotischen Klänge in sich aufrufen konnte, um sie
allein Kraft ihres Willens in harmoniegeladene Energie zu wandeln. Alles woraus
die Welt bestand, war erfüllt von dieser Energie, alles barg in sich seine
eigenen Klänge. Mit nur ein wenig Konzentration konnte Lisa aus dieser
pulsierenden Lebenskraft schöpfen, um eins mit der Welt zu werden und im
Einklang mit ihr, auf diese einzuwirken. Wie ein Spiel war es ihr zunächst
vorgekommen, ein magisches Spiel allein von ihr beherrscht, wundervoll und
berauschend…
Das Erwachen aus diesem Trance ähnlichen Zustand war
jedoch das, was Lisa bald nicht mehr vermochte… Sie hatte ihre Eltern von ihrem
Fluch befreit und mehr über sich erfahren, als sie jemals wissen wollte…
doch gleichzeitig waren verwirrende Bilder in ihr erschienen, Bilder
unbekannter Landschaften und Ereignisse, Bilder eines in Licht gehüllten
Sees. Die Klänge waren zunehmend lauter durch ihre Seele gehallt, bis sie
schließlich nicht mehr verstummen wollten… Sie hatte versucht sie zu
beherrschen, sie hatte versucht sie von sich zu bannen, indem sie sie mit
lauter, realer Musik übertönen wollte, doch all ihre Bemühungen
waren nutzlos geblieben.
Am Ende war sie ihnen
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