Die Quelle
Volk die richtige Richtung zu weisen. Die Regentschaft
zermürbte jedoch ihre Kräfte mehr, als sie einst vermutet hätte,
und sie sehnte sich danach, einen Nachfolger zu finden, einen jüngeren,
mächtigeren Seher. Noch war niemand dazu bereit, noch hatte sich die Gabe
der Vorsehungen keinem offenbart und die Bürde lastete weiterhin auf ihr.
Noch immer in ihren trüben Gedanken verloren,
beobachtete sie, wie der schlafende Körper von Serfaj behutsam auf eine
Trage gelegt wurde. Alles war genau geplant. Er würde nun fünf Tage
lang schlafen, damit der neue Geist die Erinnerungen des Körpers in sich
aufnehmen konnte. Mehana hoffte, dass der Geist des Fremden stark genug war,
sich nicht nur das Wissen anzueignen, das in Serfajs Körper gespeichert
war, sondern auch die Erinnerungen zu wahren, die an die eigene Seele gebunden
waren. Ob es ihm gelingen konnte, würde sich bald zeigen.
Erst als Alienta, der ehemalige Regent, sich ihr
näherte, kehrte sie gedanklich in ihre unmittelbare Umgebung zurück.
Obwohl er nur wenige Jahre älter als Mehana war, hatte seine lange
Regentschaft ihn zu einem alten Mann gemacht, an dessen Weisheit jedoch kaum
jemand zu zweifeln wagte. Er hatte vor einigen Jahren selbst entschieden, das
Zepter an Mehana weiterzugeben und nur noch zu lehren. Seine Entscheidung wurde
respektiert: es gehörte zur Tradition, bei schwindenden magischen
Kräften, dem Rat einen Nachfolger vorzuschlagen.
Nun musterte er Mehana, als wartete er auf den richtigen
Moment, um sie anzusprechen. Schließlich brach er die Stille, und um
seinen Worten die passenden Gefühlsregungen hinzuzufügen, teilte er
sich sowohl mit gesprochenen Worten als auch telepathisch mit. Seine Stimme
klang ein wenig belegter als sonst, was Mehana kaum verwunderte, war er doch
mit nur wenigen anderen Heilern für die Gesundheit der magischen Runde
verantwortlich gewesen. Eine kräftezehrende Aufgabe, die ihm keine Zeit
zum Ruhen gestattet hatte.
„Mehana, du bist eine weise Regentin und eine begnadete
Seherin. Jeder weiß, wie schwer es ist, eine Vision zu deuten. Du hast
den Rat um Beistand gebeten und hast diese Entscheidung mit seiner
Unterstützung getroffen. Solltest du dich geirrt haben, kann dir niemand
etwas vorwerfen, also wovor fürchtest du dich?“
Es war offensichtlich, dass Alienta in Mehanas Gedanken
gespäht und so ihre Zweifel erblickt hatte. Es war innerhalb ihres Volkes
ein natürlicher Vorgang, ungeladen die Gedanken anderer zu betreten und
darüber hinaus galt es als unehrenhaft, Geheimnisse in sich zu wahren.
Bitter dachte Mehana daran, wie viele ihrer Vorahnungen sie in den letzten
Monaten entgegen der Sitten in sich verborgen hielt. Umso mehr genoss sie die
Ruhe, die der Heiler Alienta in ihren Geist strömen ließ,
während er zu ihr sprach. Von der Vertrauenswürdigkeit, die er
ausstrahlte, ließ sie sich dennoch nicht dazu verleiten, ihm ihre
Gedanken vollends zu offenbaren. Vorsichtig formulierte sie ihre Antwort und
ließ parallel dazu nur einen Bruchteil ihrer Ängste telepathisch in
den Geist Alientas fließen.
„Ja, du hast Recht. Doch auch wenn ich die Verantwortung für
die Entscheidung nicht alleine trage, ist es dennoch von großer
Bedeutung, dass sie richtig ist. Ich mag nicht daran denken, was passieren
würde, wenn…“
Alienta unterbrach sie.
„Dann denke nicht daran. Ändern kannst du jetzt
sowieso nichts mehr. Es wurde entschieden, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen
ist, die Prophezeiung zu erfüllen, also erfüllen wir sie, so gut wir
können. Unser König wird dir hoffentlich bald verraten können,
ob wir richtig entschieden haben. Bis dahin warte und übe Geduld!“
Der etwas belehrende Tonfall Alientas hätte Mehana
beleidigen können. Geduld üben! Das war etwas, das man Kindern
beibrachte. Dennoch hatte Alienta wohl nicht ganz Unrecht, sie daran erinnern
zu wollen: Zweifel stellten eine Schwäche dar, die sich ihr Volk jetzt
nicht leisten konnte und so ließ sie sich widerspruchslos belehren
„Ja, ich glaube ich bin einfach nur erschöpft. Ich
sollte schlafen gehen.“ Sie versuchte natürlich zu klingen, um die
Bedeutung ihrer Zweifel verblassen zu lassen.
Alienta legte seine Hand auf Mehanas Schulter. Sie konnte
das leichte Zittern seiner knochigen Finger spüren, dennoch strömte
die wohltuende Wärme seiner Heilkräfte durch ihren Körper, als
könne weder das Alter noch seine Erschöpfung, seine Macht mindern.
Ihr konnte er nichts vormachen. Auch wenn er alt wirkte,
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