Die Rache der Engel
Tatsache, dass der Neuankömmling seinen Befehl in perfektem Englisch rief, oder die Tatsache, dass der junge Mann mit der tätowierten Wange kurz davor Martins Namen ausgesprochen hatte– den Namen meines Ehemanns. Aber mir blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Instinktiv ließ ich die Kopflampe und die Tasche fallen und hob die Hände. Der junge Mann jedoch folgte meinem Beispiel nicht.
Dann ging alles blitzschnell.
In einer Drehung zog der » Mönch« den Habit aus und ging zwischen den Kirchenbänken zu seiner Rechten in Deckung. Wie ich schon geahnt hatte, trug er unter der Kutte Sportkleidung, doch er schwang etwas in den Händen, was ich nicht sofort erkannte.
Nicht weniger verblüfften mich die Schüsse, die gleich darauf direkt hinter ihm in die Handläufe der Bänke einschlugen.
» Julia Álvarez?«
Dieselbe Stimme, die soeben » Hände hoch!« geschrien hatte, rief jetzt meinen Namen. Die Aussprache war allerdings besser als die des » Mönchs«. Ich hörte die Stimme hinter mir, aber ich war so überrascht von den Schüssen, dass ich einige Zeit benötigte, bis ich begriff, dass in dieser Nacht alle meinen Namen zu kennen schienen.
» Legen Sie sich auf den Boden!«
Ich duckte mich noch tiefer auf die Fliesen im Querschiff und schaffte es gerade noch, mich zu dem einzigen Beichtstuhl an der Wand zu schleppen. Da hallte drei oder vier Mal ein donnernder Knall durch die Kathedrale und Mündungsfeuer blitzte auf. Aber diese Schüsse kamen von dem jungen Mann mit der Tätowierung! Anschließend war einige Sekunden lang alles ruhig.
Die Kathedrale blieb in eine tödliche Stille getaucht. Das Herz klopfte mir bis zum Halse und ich wagte nicht zu atmen. Was ging hier vor? Was wollten diese beiden Fremden, die wie Verrückte aufeinander schossen?
Und da, als ich an der Kirchendecke nach einem Orientierungspunkt suchte, der mir helfen könnte, hinauszufinden, entdeckte ich es. Es ist nicht einfach zu beschreiben. Genau in der Mitte der Kathedrale, in der Vierungskuppel mit dem Auge Gottes, breitete sich eine Art ätherischer Substanz aus. In 20 Metern Höhe schwebte sie durchsichtig wie ein Schleier dahin und sandte orangefarbene elektrische Lichtstrahlen aus. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Es hatte etwas von einer Gewitterwolke und befand sich genau über dem Grab des Apostels.
›Martin hätte Gefallen daran, das zu sehen‹, sagte ich mir.
Aber mein Überlebenstrieb verdrängte den Gedanken sofort und konzentrierte sich wieder auf die Frage, wie ich fliehen könnte.
Ich wollte gerade meinen Schlupfwinkel aufgeben und zu einer Steinsäule kriechen, wo ich besseren Schutz zu finden hoffte, als sich mir eine schwere Hand auf den Rücken legte und mich auf den Boden drückte.
» Nicht bewegen, Mrs Álvarez!«, hörte ich die Stimme der Person, die mir fast die Rippen zerquetschte.
Ich war wie versteinert.
» Ich bin Nicholas Allen, Mrs Álvarez. Ich bin Colonel der amerikanischen Sicherheitsbehörde. Ich bin hier, um Sie zu retten.«
Mich zu retten?
Da merkte ich, dass dieser Allen ein Englisch mit einem leichten Südstaatenakzent sprach– genau wie Martin.
Martin…!
Aber noch ehe ich den Mann um eine Erklärung bitten konnte, durchschlug ein neuer Geschossregen den oberen Bereich des Beichtstuhls.
» Dieser Dreckskerl«, stöhnte der amerikanische Oberst leise. » Schnell, wir müssen hier raus.«
6
Das hagere Gesicht von Antonio Figueiras wurde bleich.
» Sind das Schüsse?« Niemand widersprach. » Verdammte Scheiße, das sind Schüsse!«
Die sechs Polizisten und die zwei Beamten der Guardia Civil, die bei ihnen standen, sahen sich unschlüssig an, als bezweifelten sie, dass das dumpfe Getöse aus der Mündung einer Waffe stammen könnte. » Dieses Arschloch veranstaltet in der Kathedrale eine Schießerei«, sagte der Inspektor und sah Jiménez an, als wäre dieser dafür verantwortlich. Er zog seine Dienstwaffe, eine Heckler & Koch Compact Kaliber 9 -mm, die er unter dem Trenchcoat trug, und befahl:
» Der Mann muss sofort festgenommen werden.«
Der Unterinspektor zuckte mit den Schultern.
» Irgendwann erklären Sie mir noch genauer, wer dieser Mann ist!«, knurrte Figueiras. » Aber jetzt folgen Sie mir!«
Vier Männer schlichen vorsichtig hinter ihm her zur rechten Seite der Puerta de Platerías. Die anderen Männer bildeten die Nachhut, sie behielten die Seiteneingänge sowie die nahe gelegene Puerta Santa– die Heilige Tür– der Kathedrale im Auge. » Also, raus
Weitere Kostenlose Bücher