Die Rache der Zwerge
geschlichen hatte. Von dem Schmerz jedoch nicht, denn er lauerte wie ein boshaftes Tier in einem Winkel seines Verstandes und schnellte allzu oft hervor, bohrte die langen scharfen Krallen in sein verletzliches Inneres, in seine Seele. Seit jenem verfluchten Tag waren sie seine steten Begleiter - die Unzufriedenheit und der Schmerz.
Das bisschen Zerstreuung wurde durch jedes Kinderlachen zerstört, das ihm unterwegs zu Ohren kam. Der fröhliche Klang schnitt durch sein Herz und riss die Wunde in seiner Seele auf, ließ sie bluten, ehe Tungdil den Sturzbach mit Bier zum Versiegen brachte. Leider hielten diese allzu flüssigen Pfropfen niemals lange vor, daher musste er ständig nachhelfen. So entstanden Gewohnheiten.
Leicht schwankend erreichte Tungdil das gewaltige Tor mit den beiden gigantischen Flügeln, die ein einziges Mal durch Verrat bezwungen worden waren. Ansonsten hätten sie den Angriffen der Scheusale Tausende Zyklen lang getrotzt.
Und genau so sollte es auch wieder sein. Die beschädigten Stellen waren von den Steinmetzen ausgebessert worden, die fünf Riegel waren an ihren Plätzen und bewegten sich nur, wenn die geheimen Worte ausgesprochen wurden.
»Wenn du noch ein Auge hättest und singen würdest, hielte ich dich für Bavragor Hammerfaust«, sagte eine polternde Stimme hinter ihm und schreckte ihn aus seinen Gedanken.
»Die Stimme eines Toten spricht über einen Toten?«, erwiderte er und wirbelte herum, zu schnell, um sich auf den Füßen zu halten. Zwei kräftige Arme hielten ihn fest und verhinderten den Sturz.
»Sieht so ein Toter aus, Gelehrter?«
Tungdil musterte den muskulösen, gedrungenen Zwerg vor sich. Die langen schwarzen Haare waren an den Schädelseiten wegrasiert und hingen als Zopf auf den Rücken, der gleichfarbige Bart reichte bis zur Gürtelschnalle. Kettenhemd, Lederwams, Stiefel und Helm machten aus ihm einen vollständigen Krieger. Ein Krähenschnabel - eine Art Kriegshammer mit einem unterarmlangen Sporn auf einer Seite - ruhte neben ihm auf dem Fels, der Griff lehnte gegen die Hüfte.
»Boindil?!«, wisperte er ungläubig. »Boindil Zweiklinge!«, rief er dann freudig und riss den Freund an sich, den er seit fünf Zyklen nicht mehr gesehen hatte. Er schämte sich seiner Tränen nicht, und das laute Schniefen dicht neben seinem Ohr sagte ihm, dass selbst ein gestandener Streiter wie sein Freund seine Gefühle nicht verbarg. »Am Grab meines Bruders Boendal an der Hohen Pforte haben wir uns das letzte Mal gesehen«, weinte Boindil vor Freude.
»Und auch da lagen wir uns heulend in den Armen«, sagte Tungdil und klopfte ihm auf den Rücken. »Boindil! Wie sehr habe ich dich vermisst!« Er ließ den Freund los, mit dem er unglaubliche Abenteuer bestanden, Gutes und Schlechtes, Trauriges und Schönes erlebt hatte.
Der Zwilling wischte sich die Tränenperlen aus dem Bart, die wie an einem Federkleid daran herunterrannen. »Ich fette ihn noch immer regelmäßig«, sagte er und strahlte. »Gelehrter, du hast mir gefehlt.« Tungdil suchte einen Hinweis auf den Wahn, der in dem Krieger geschlummert hatte und gelegentlich hervorgebrochen war. Aber der Blick aus den braunen Augen war nicht länger irre sondern warm und freundlich. »Der Tod verändert auch die Lebenden, hast du einmal zu mir gesagt.« Er klopfte gegen Tungdils Kettenhemd. »Wenn du als Lebender allerdings so weitermachst, wird die Veränderung dein Tod«, neckte er. »Ist das Bier, das Balyndis braut, dermaßen gut?«
»Das Bier liefert uns ein Händler, und es schmeckt lange nicht so gut wie das, welches die Zwerge brauen. Es hat die gleiche Wirkung, bringt am Tag danach jedoch mehr Kopfschmerzen.« Tungdil nahm ihm die Anspielung auf seine Leibesfülle nicht krumm.
Aber die dichten Augenbrauen seines Freundes hoben sich vorwurfsvoll. »Mit anderen Worten: Du bist ein Säufer wie Bavragor geworden«, fasste er zusammen. Er roch den strengen Schweißgeruch, sah die verklebten Haare und das gealterte Gesicht. »Du hast dich gehen lassen, du dicker Held. Was ist geschehen?« »Wir sehen uns nach fünf Zyklen, und du hältst mir eine Predigt«, murrte Tungdil nun doch. »Erzähl mir lieber, was dich von der Hohen Pforte vertrieben hat.« Er schaute sich um und sah die vielen Krieger, die im Sonnenlicht in Reih und Glied angetreten waren, um ihre Kampfübungen zu absolvieren.
»Nichts hat mich vertrieben oder getrieben. Ich brenne nicht mehr auf den Kampf, und die Glut in meinen Adern ist verloschen. Es war die Bitte des
Weitere Kostenlose Bücher