Die Rache des Kaisers
Fluß.
Langsam ritt ich nach Süden, spielte unterwegs auf der Straße und in Gasthäusern die Fiedel, manchmal zusammen mit anderen Musikanten, und wieder war es die Musik, die die Verfinsterung vertrieb. Eines Tages, in den Alpen, hatte ich das Gefühl - nein, die unbegründete Gewißheit -, wieder ich zu sein, nicht der Rachebruder meiner Feinde. Trotzdem fühlte ich mich leer, ohne zu wissen, warum. Und ich wußte nicht, wohin ich reiten sollte.
Natürlich kannte ich das nächste Ziel: Venedig. Ich wollte meine Guthaben auflösen, die in den letzten Jahren ohnehin arg geschwunden waren. Und dann? Nach Konstantinopel reisen, um Kassem zu suchen, der vielleicht nicht dort war, sondern in Damaskus oder Bagdad oder Tunis - oder tot? In den Osten, durch die Steppen nördlich des Schwarzen Meers oder die Berge südlich, nach Persien und Indien? China gar? Nach Portugal reiten und von dort mit einem der zahllosen Indienfahrer in See gehen? Wieder über den Ozean, nach Amerika, um zu sehen, wie es auf dem Festland aussah, in den
sagenhaften Goldländern? All das, ja; nein, nichts von alledem; und wozu? Und: wozu nicht?
An einem stickigen Sommertag erreichte ich Venedig. Und wurde beim Verlassen des Fährboots festgenommen. Als Feind der Republik, Spitzel des Kaisers, der in Rom und in Wien gegen Anliegen der Serenissima gehandelt und für ihre Feinde gekämpft hatte. Sie nahmen mir alles ab, was ich bei mir trug, und steckten mich in ein dunkles, feuchtes Loch.
Am dritten Tag holte mich der Schließer heraus; ihn begleitete ein bewaffneter Büttel. Ich war an den Händen gefesselt und hätte keine Aussichten gehabt, gegen zwei Männer einen Fluchtversuch zu unternehmen.
Sie brachten mich in einen hellen, geräumigen Raum, eine Art großer Schreibstube. Überall lagen Papiere und Aktenbündel, aber nach der Zeit in dem dunklen Loch war ich zunächst so geblendet, daß ich weder die Papiere sah noch die Tische und Bänke, auf denen sie lagen.
Und auch nicht den Mann, der an einem Schreibtisch lehnte, den Rücken zum Licht, zum blendenden Fenster.
»So sieht man sich wieder«, sagte er.
Es war Lorenzo Bellini, Hauptmann der Stadtwache, mit dem ich vor Jahren - vor hundert Jahren, in einem anderen Leben - zu tun gehabt hatte, nach jenem Überfall, bei dem ich den Neapolitaner Emilio töten und Symonds verletzen konnte.
Ich kniff die Augen zusammen; allmählich nahm ich nicht nur Umrisse wahr. »Ich hatte es mir anders vorgestellt«, sagte ich. »Wenn überhaupt.«
»Du siehst scheußlich aus. Rasieren, baden, essen, trinken?« Er deutete auf einen Stuhl. »Muß alles warten; setz dich.«
Ich ließ mich auf den Stuhl sacken und hob die gefesselten Hände. »Muß das sein? Ich werde nicht fliehen. Was habt ihr mit mir vor?«
Er kam zu mir und schaute auf mich herab. »Ehrenwort?«
»Unter alten Waffenbrüdern.«
Er lächelte flüchtig, zog ein Messer und zerschnitt die Fesseln. Ich bewegte die Finger, um wieder Gefühl zu bekommen. Das erste, was ich fühlte, war prickelnder Schmerz. »Was habt ihr mit mir vor?«
»Du wiederholst dich. Tja, was wohl? Drüben« - er wies aus dem Fenster; da ich nicht wußte, wo ich war, konnte ich nur annehmen, daß er nach Westen deutete, zum Festland -, »in Europa, gewissermaßen …«
»Gehört ihr nicht dazu?«
Er lachte. »Venedig ist bei Europa. Drüben geht bald der nächste Tanz los, und dazu müssen wir möglichst viel wissen.«
»Damit ihr euch wieder mit den Türken verbünden könnt?«
Er hob die Schultern. »Jeder mit jedem, solange es nützlich ist. Das müßtest du doch inzwischen gelernt haben.«
»Habe ich. Gründlich.«
»Siehst du. Deswegen haben wir Listen gemacht, auf denen alle stehen, die vielleicht etwas wissen könnten. Die weit genug herumgekommen sind und, zum Beispiel, die Kampfweise spanischer Arkebusiere kennen.«
»Die kennt ihr doch selbst.«
»Ich sagte ja: zum Beispiel. Die, zum Beispiel, etwas über die Geschäfte der Fugger und der Welser wissen. Über Venezuela, sagen wir mal. Und über verstorbene Kardinäle.«
»Ich bewundere eure Wissensquellen.«
»Sie sind vorzüglich, das stimmt; aber natürlich sind sie nicht vollkommen.«
»Noch einmal - was wollt ihr? Was soll ich tun? Was erhalte ich dafür?«
»Bewegungsfreiheit hier, nicht auf dem Festland - bis auf weiteres. Verfügung über dein Geld und deinen sonstigen Besitz. Wenn alles fertig ist, einen angemessenen Lohn und die Gunst des Rats. Das Recht, dich unter den
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