Die Rache des schönen Geschlechts
Gehen Sie allein rein, gleich die zweite Tür links, ist nicht zu verpassen.«
Ein geschmackvoll eingerichtetes Haus und trotz Enkelkindern ordentlich. Die zweite Tür links stand halb offen. »Darf ich?«
Keine Antwort. Er trat ein. Die alte Frau saß in einem Sessel und schlief in der warmen Sonne, die durch die Fensterscheiben hereinschien. Ihr Kopf war nach hinten geneigt, und aus ihrem Mund, aus dem glitzernd ein Speichelfaden sickerte, kam ein mühseliges, schabendes Atmen, das immer wieder kurz stockte, um dann mit noch größerer Mühe wieder einzusetzen. Eine Fliege huschte ungestört über die Augenlider, die so dünn geworden waren, dass der Commissario befürchtete, sie könnten unter dem Gewicht des Insekts einbrechen. Dann schlüpfte die Fliege in ein durchscheinendes Nasenloch. Die Gesichtshaut war gelb und gespannt und lag so eng an, dass sie wie eine Farbschicht auf den Knochen wirkte. Die Haut der schlaff daliegenden, von der Arthrose verkrümmten Hände dagegen war wie aus Pergament und hatte große braune Flecken. Die Beine, auf denen eine Decke lag, zuckten unaufhörlich. In dem Zimmer hing ein unerträglicher Mief, es roch ranzig und nach Urin. Existierte in diesem Körper, den die Zeit so entstellt hatte, noch etwas, mit dem man kommunizieren konnte? Montalbano bezweifelte es. Und schlimmer noch: Wenn es dieses Etwas gab, würde es dann die Wahrheit ertragen?
Wahrheit ist Licht, oder so ähnlich hatte der Pfarrer gesagt. Schon, aber konnte ein so starkes Licht das, was es nur erhellen sollte, nicht auch in Flammen aufgehen lassen und verbrennen? Da war das Dunkel des Schlafes und der Erinnerung allemal besser.
Er wandte sich ab und ging in den Garten zurück.
»Haben Sie mit der Signora gesprochen?«
»Nein. Sie schläft. Ich wollte sie nicht wecken.«
Anmerkung des Autors
Dieser Band besteht aus drei langen und drei kurzen Erzählungen. Die langen Erzählungen waren bisher unveröffentlicht. Zwei der drei kurzen Erzählungen sind bereits erschienen: Fieber in der Zeitschrift für Strafvollzug >Le Due Citta<, 2001; A Hatful of Rain in der Tageszeitung >La Repubblica< vom 15. August 1999. Die kürzeren Erzählungen sind nicht im eigentlichen Sinne Kriminalgeschichten, sondern eher Geschichten von drei zufälligen und außergewöhnlichen Begegnungen des Commissario Montalbano.
Natürlich habe ich die Namen und Situationen erfunden, sie haben also keinerlei Bezug zur so genannten Realität. a. c.
Im Text erwähnte kulinarische Köstlichkeiten cannoli: Mit süßer Ricottacreme gefüllte Röllchen pasta 'ncasciata: Makkaroniauflauf mit Auberginen und Hackfleisch
pesto alla trapanese: Pesto aus reifen Tomaten, Knoblauch, Basilikum, Olivenöl, Salz
purpi qffucati: Tintenfische in Tomatensauce
risotto di mare: Risotto mit Meeresfrüchten
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