043 - Das Beinhaus der Medusa
Er hielt den Atem an, als er die dunkle Tür erreichte. Gunnar Mjörk blieb
lauschend stehen und sah sich noch einmal um.
Am bewölkten Himmel stand kein Mond und kein Stern. Der kühle Wind von der
See her heulte leise in dem vom Herbst gefärbten Laub. Es war eine finstere
Nacht. Die Umgebung paßte zu den Gedanken des jungen Norwegers und zu seinem
Vorhaben. Er glaubte, das Geheimnis zu kennen. Jetzt wollte er sich den letzten
Beweis holen … Die Erregung ließ sein Blut rascher durch die Adern strömen, und
kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn.
Seine Nerven ließen ihn jetzt hoffentlich nicht im Stich.
Mit zitternden Fingern steckte er den Dietrich in das Schlüsselloch. Leise
knackend bewegte sich der Riegel.
Gunnar drückte die schwere, mit angerosteten Eisenbeschlägen versehene Tür
langsam nach innen.
Zentimeterweise nur verbreiterte der Eindringling den Spalt.
Muffige Luft schlug Mjörk entgegen. Er kannte diesen Teil des kleinen alten
Schlosses nicht. Die Gesellschaftsräume und die Ballsäle drüben auf der anderen
Seite waren ihm ein Begriff.
Erst seit vorgestern hielt er sich hier auf und war dabei auf das Rätsel
gestoßen, das ihm schlaflose Nächte bereitete. War er wahnsinnig und konnte
das, was er vermutete, überhaupt wahr sein?
Mjörk trat über die Schwelle. Der finstere Gang nahm ihn auf. Im gleichen
Augenblick schien die Dunkelheit vor ihm zu unheimlichem Leben zu erwachen.
Mjörk konnte nicht mehr die Flucht ergreifen. Er fand kaum die Zeit zu
schreien.
Eine leichenblasse Hand schoß vor. Der blitzende Stahl bohrte sich genau in
das Herz Gunnar Mjörks.
Der Getroffene riß die Augen auf, griff sich mit verkrampften Händen an die
Wunde und fühlte, wie das warme Blut zwischen seinen Fingern durchlief.
Dumpf schlug Mjörk zu Boden. Sein Gesicht fiel in den fingerdicken Staub.
Gunnar Mjörk wurde in die endlose Tiefe gerissen, in die schweigende Nacht,
aus der es kein Zurück mehr gab.
●
Der Mörder riß ein Streichholz an. Er trug einen dunklen, aus bestem
Wollkammgarn maßgeschneiderten Anzug, und es schien, als käme dieser Mann
gerade von einer Party.
Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie mit dem
bis zur Hälfte abgebrannten Streichholz an, das er noch zwischen den Fingern
hielt.
Dann erst machte sich der Mann die Mühe, die Tür zu verschließen, die Mjörk
halb geöffnet hatte.
Ein tiefer Atemzug hob und senkte die Brust.
Björn Eriksen rauchte seine Zigarette zu Ende. Nur gelegentlich starrte er
dabei auf den reglosen Körper zu seinen Füßen. Mit der weißbehandschuhten Hand
warf er schließlich die gerauchte Zigarette zu Boden. Die feinen Spinnweben,
die sich über den dicken Staubteppich verbreiteten, fingen durch die glimmende
Kippe Feuer und verschmorten lautlos.
»Du kannst herauskommen. Es ist alles zu Ende!« Eriksens Stimme klang
dumpf. »Du siehst, daß ich recht hatte. Er ist zurückgekommen, obwohl er
behauptete, während der nächsten Tage in Oslo zu tun zu haben. Er war überhaupt
nicht in Oslo.
Ich habe ihn beobachtet, als er den Berg heraufkam. Und deine Vermutung,
daß er aller Wahrscheinlichkeit nach durch den alten Seitenanbau käme, hat sich
ebenfalls erfüllt. Er mußte den Haupteingang fürchten. Seine Ankunft im Schloß
wäre dort von den Bediensteten nicht unbemerkt geblieben. Das Spiel ist aus, er
wollte es so …!«
Fast schien es, als würde Eriksen zu einer unsichtbaren Gestalt sprechen.
Er wandte sich langsam um und starrte in die finstere Nacht, die sich an die
rohe Mauer anschloß.
Dort regte es sich jetzt. Etwas Weißes kam durch die Dunkelheit auf ihn zu
und leuchtete wie ein Gespenst. Das helle Gewand der jungen ungewöhnlich
schönen Frau war knöchellang und schmiegte sich weich und fließend an den
schlanken wohlproportionierten Körper. Die Frau näherte sich lautlos Eriksen.
Sie trug auf dem Kopf einen aus weißer Seide geschmackvoll gebundenen Turban.
Inger Bornholms Miene war ernst. Doch dieser Ernst konnte ihre außergewöhnliche
Schönheit, die Faszination, die ihre kirschdunklen Augen und das beinahe
griechische Profil ausstrahlten, nicht verbergen.
Inger lehnte den Kopf an Eriksens Schulter. »Ich kann es noch immer nicht
fassen«, murmelte sie und wandte den Blick ab. Ein leichter Schauer lief über
ihren Körper. »Ist er wirklich tot?«
Eriksen nickte.
»Ja. Und hätte ich mich nicht entschlossen, es zu tun, dann läge ich jetzt
an seiner Stelle hier am
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