Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
hatte, zwar eingehende Prüfungen nahelegte, ihn
zugleich aber auch schützte. Nachdem ich Armstrongs Kreuzzug beendet hatte, wandte ich mich jedenfalls anderen Projekten zu und war froh,
den Planeten Lance in meinem Rückspiegel allmählich entschwinden zu sehen.
Im Mai 2010 aber änderte sich alles.
Die US -Regierung eröffnete vor einer
großen Ermittlungskommission ein Verfahren gegen Armstrong und sein US -Postal-Team. Zu den Anklagepunkten zählten unter
anderem Betrug, Konspiration, organisierte Kriminalität, Bestechung
ausländischer Funktionäre und Zeugeneinschüchterung. Die Untersuchung wurde von
Bundesanwalt Doug Miller und Ermittler Jeff Nowitzky geleitet, die schon im
Fall Barry Bonds/ BALCO eine wichtige Rolle gespielt
hatten [auch dabei ging es um einen spektakulären Fall von Doping im Sport,
Anm. d. Verlags]. In diesem Sommer nun leuchteten sie in die dunkelsten Ecken
von »Planet Lance«. Zahlreiche Zeugen wurden vorgeladen – Armstrongs
Teamkameraden, Angestellte und Freunde –, um vor einer Grand Jury in Los
Angeles auszusagen.
Ich erhielt mehrere Telefonanrufe und erfuhr aus zuverlässiger
Quelle, dass die Untersuchung immer größere Ausmaße annahm: Nowitzky lagen
Augenzeugenberichte vor, wonach Armstrong Betäubungsmittel befördert, benutzt
und verteilt hatte, und es gab Beweise, dass er vermutlich Zugang zu
experimentellen Drogen zur Blutauffrischung hatte. Dr. Michael Ashenden, ein
australischer Anti-Doping-Experte, der bei mehreren wichtigen
Dopinguntersuchungen mitgewirkt hatte, meinte: »Wenn Lance es schafft, aus
dieser Sache heil herauszukommen, dann muss er schon ein verdammter Houdini
sein.«
Die Untersuchung ging voran, und ich hatte mehr und mehr das Gefühl,
dass es noch etwas zu erledigen gab, dass dies die Gelegenheit war, die wahre
Geschichte der Ära Armstrong zu offenbaren. Das Problem war nur, dass ich diese
Geschichte nicht allein schreiben konnte. Ich brauchte einen Insider, jemanden,
der in dieser Welt gelebt hatte und bereit war, die Omertà zu brechen. Und
dafür kam eigentlich nur einer infrage: Tyler Hamilton.
Tyler Hamilton war kein Heiliger. Er war als Profi in der Weltspitze
gefahren und hatte eine olympische Goldmedaille gewonnen, ehe er 2004 beim
Doping erwischt und aus dem Radsport verbannt wurde. Seine Verbindung zu
Armstrong reichte mehr als ein Jahrzehnt zurück. Von 1998 bis 2001 war Hamilton
zunächst Armstrongs bester Mann bei US Postal
gewesen, und nach seinem Wechsel zu CSC und Phonak,
wo er die Kapitänsrolle übernahm, wurde er Armstrongs Rivale. Außerdem waren
die beiden zufällig Nachbarn – im spanischen Girona wohnten sie im selben Haus,
Armstrong im zweiten Stock, Hamilton und seine Frau Haven im dritten.
Vor seinem Sturz galt Hamilton als die Sorte Held, die
Sportjournalisten in den 1950er-Jahren gern erfanden: ein Mann der leisen Töne,
gut aussehend, höflich und dabei unglaublich zäh. Er stammte aus Marblehead,
Massachussetts, wo er bis zum College ein Top-Abfahrtsläufer gewesen war. Nach
einer schweren Rückenverletzung entdeckte er dann seine wahre Berufung.
Hamilton war das genaue Gegenteil eines schillernden Superstars: ein Arbeiter,
der langsam und geduldig die Erfolgsleiter der Radsportwelt hinaufkletterte und
der bekannt war für seine beispiellose Arbeitsmoral, seine zurückhaltende,
freundliche Art – vor allem aber für seine bemerkenswerte Fähigkeit, Schmerzen
zu erdulden.
Als Hamilton sich 2002 auf einer frühen Etappe des dreiwöchigen Giro
d’Italia bei einem Sturz die Schulter brach, fuhr er weiter und biss vor
Schmerzen die Zähne so fest zusammen, dass er sich nach der Rundfahrt elf Zähne
überkronen lassen musste. Immerhin aber landete er auf dem zweiten Platz. »In
meiner 48-jährigen Praxis habe ich noch nie einen Mann erlebt, der so große
Schmerzen aushalten kann wie er«, erklärte Hamiltons Physiotherapeut Ole Kare
Foli.
2003 stürzte Hamilton erneut auf der ersten Etappe der Tour de
France und brach sich das Schlüsselbein. Er fuhr auch diesmal weiter, gewann
eine Etappe und beendete das Rennen schließlich auf einem beachtlichen vierten
Platz. Der erfahrene Tour-Arzt Gérard Porte nannte diese Leistung »das
großartigste Beispiel an Tapferkeit, das mir je begegnet ist«.
Hamilton gehörte zu den beliebteren Fahrern im Peloton: Er war
bescheiden, sparte nicht mit Lob für andere und blieb stets besonnen. Hamiltons
Teamkollegen parodierten ihn gern. Einer spielte Hamilton, der nach einem
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