Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
sollten, wenn möglich, von unabhängiger
Seite bestätigt werden.
Hamilton stimmte ohne zu zögern zu.
An diesem Tag sprach ich acht Stunden lang mit ihm – es war das
erste von mehr als sechzig Interviews. Im Dezember verbrachten wir eine Woche
in Europa und besuchten wichtige Schauplätze in Spanien, Frankreich und Monaco.
Um Hamiltons Darstellung zu überprüfen und zu untermauern, interviewte ich
zahlreiche unabhängige Gewährsleute – Teamkollegen, Mechaniker, Ärzte,
Ehepartner, Teamassistenten und Freunde sowie acht ehemalige Fahrer von US Postal. Ihre Schilderungen sind ebenfalls in diesem
Buch enthalten; einige von ihnen kommen zum ersten Mal zu Wort.
Im Verlauf unserer Beziehung stellte ich fest, dass Hamilton seine
Geschichte nicht einfach nur erzählte, sondern dass sie regelrecht aus ihm
herausplatzte. Er besitzt ein ungewöhnlich präzises Gedächtnis, und seine
Erinnerungen waren sehr exakt, was vielleicht auf die emotionale Intensität der
ursprünglichen Erlebnisse zurückzuführen ist. Hamiltons Schmerztoleranz erwies
sich ebenfalls als nützlich. Er schonte sich nicht und ermutigte mich sogar,
mit denjenigen zu sprechen, die ihn möglicherweise in einem ungünstigen Licht
erscheinen ließen. In gewisser Weise war er besessen davon, die Wahrheit ans
Licht zu bringen, so wie er früher einmal davon besessen gewesen war, die Tour
de France zu gewinnen.
Die Gespräche zogen sich fast über zwei Jahre hin. Manchmal kam ich
mir dabei vor wie ein Priester, der die Beichte abnimmt, und manchmal wie ein
Psychiater. Mit der Zeit bemerkte ich, wie sich Hamilton beim Erzählen allmählich
veränderte. Unsere Beziehung wurde für uns beide zu einer Reise. Für Hamilton
war es eine Reise weg von aller Geheimnistuerei hin zu einem normalen Leben;
und für mich war es eine Reise ins Zentrum einer völlig unbekannten Welt.
Wie sich herausstellte, ging es in der Geschichte, die er erzählte,
nicht um Doping, sondern um Macht. Sie handelte von einem ganz normalen Jungen,
der sich in einer außergewöhnlichen Welt an die Spitze hocharbeitete, der
lernte, ein dubioses Spiel aus Strategie und Informationen zu spielen und sich
am äußersten Rand menschlicher Leistungsfähigkeit zu bewegen. Es ging um eine
korrupte, zugleich aber seltsam ritterliche Welt, in der man alle möglichen
Chemikalien schluckte, um schneller zu sein, und dennoch auf seinen Gegner wartete,
wenn dieser stürzte. In erster Linie aber ging es um die unerträgliche
Belastung, ein geheimes Leben führen zu müssen.
»An einem Tag bin ich ein ganz normaler Mensch, der ein ganz
normales Leben führt«, erklärte Hamilton. »Und am nächsten Tag stehe ich an
irgendeiner Straßenecke in Madrid mit nicht zurückverfolgbarem Handy und einem
Loch im Arm. Und ich blute wie ein Schwein und hoffe, dass man mich nicht
verhaftet. Es war völlig verrückt. Aber damals schien es die einzige
Möglichkeit zu sein.«
Manchmal erzählte mir Hamilton von seiner Angst, Armstrong und seine
einflussreichen Freunde könnten gerichtlich gegen ihn vorgehen, aber er äußerte
niemals Hassgefühle gegenüber Armstrong. »Ich kann mit Lance mitfühlen«, sagte
Hamilton. »Ich begreife, wer er ist und wo er steht. Er hat dieselbe Wahl
getroffen wie wir alle, um mit im Spiel zu sein. Dann gewann er die Tour, die
Sache geriet außer Kontrolle, und die Lügen wurden immer mehr. Jetzt bleibt ihm
keine andere Wahl. Er muss weiter lügen und versuchen, seine Leute davon zu
überzeugen, bei der Stange zu bleiben. Er kann nicht mehr zurück. Er darf nicht
die Wahrheit sagen. Er sitzt in der Falle.«
Armstrong reagierte nicht auf die Bitte um ein Interview für dieses
Buch. Stattdessen machten seine Rechtsvertreter deutlich, dass er sämtliche
Dopingvorwürfe strikt zurückweise.
Nachdem die US -Anti-Doping-Behörde ( USADA ) Armstrong, seinem Trainer, Dr. Ferrari und vier
seiner Postal-Teamkollegen ein Dopingkomplott zur Last gelegt hatte, äußerte
sich Armstrong in einer Erklärung vom 12. Juni 2012 folgendermaßen: »Ich habe
nie gedopt, und im Gegensatz zu vielen meiner Ankläger habe ich als
Ausdauersportler 25 Jahre lang ohne irgendwelche leistungssteigernden Mittel
Wettkämpfe bestritten, mich über 500 Dopingtests unterzogen und habe sie alle
bestanden.«
Einige von Armstrongs Kollegen, die von der USADA angeklagt wurden, haben ebenfalls mit Vehemenz jede Beteiligung an
Dopingaktivitäten bestritten, unter ihnen der ehemalige Postal-Direktor
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