Die Lady mit dem Bogen
kapitel 1
B eim Erwachen wusste sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Mallory de Saint-Sebastian setzte sich auf und ließ ihren Blick durch die kleine Zelle wandern. In St. Jude’s Abbey lebten die Schwestern längst nicht so spartanisch wie dem Vernehmen nach in anderen Ordenshäusern. Sie selbst hatte noch nie ein Kloster von innen gesehen, ehe sie wenige Tage nach dem Tod ihrer Mutter hierhergekommen war.
Ein schmaler Streifen Mondlicht lag wie ein schlanker Finger auf dem Steinboden und wanderte langsam zur Kommode neben der Tür. Nach über fünf Jahren im Kloster kannte Mallory den Raum und die Gestalt eines jeden Schattens darin bis in die kleinste Einzelheit und konnte jetzt nichts Ungewöhnliches sehen.
Nicht in ihrer Zelle.
Und doch stimmte etwas nicht.
Sie stand auf. Die dünne Decke war bereits auf den Boden geglitten, da die Nacht fast so heiß wie der vergangene Tag war. Ein Schweißtropfen glitt ihr Rückgrat entlang, als sie Schritt für Schritt langsam zur Tür ging, die sie in der Hoffnung auf einen Luftzug, und sei es der kleinste, ein wenig offen gelassen hatte.
Mit angehaltenem Atem lauschte sie, um zu ergründen, was sie geweckt hatte. Von jenseits des von einer einzigen blakenden Kerze erhellten Ganges hörte sie das Schnarchen einer ihrer Mitschwestern. Eine andere redete im Schlaf. In den Binsen auf dem Boden raschelte es. Entweder eine Maus oder eine Katze auf der Jagd nach einem der Nagetiere, die sich allen Bemühungen, sie aus den Mauern der Abtei zu vertreiben, hartnäckig widersetzten.
Es waren vertraute Geräusche.
Was also hatte sie aus dem Schlaf gerissen? Sie hatte tief geschlafen und einen seltsamen Traum gehabt, der nun mit jedem Herzschlag mehr verblasste.
Da hörte sie es wieder.
Eisen auf Stein. Pferdehufe! Pferde mussten das Klostergelände betreten haben. Aber wer war mitten in der Nacht hier eingetroffen? Ehrliche Reisende baten um Obdach, ehe die Sommersonne ein paar Stunden vor Mitternacht hinter dem westlichen Horizont versank. Nur Diebe und anderes Gesindel waren nach Einbruch der Dunkelheit noch unterwegs.
Sie griff nach hinten in ihre Zelle. Bogen und Köcher, stets griffbereit zur Hand, waren leicht gefunden. Den Tragriemen des Köchers warf sie über die Schulter, die Bogensehne ließ sie locker, als sie zur Wendeltreppe in dem Turm am Ende des Ganges lief. Die Fenster, die die Treppe begleiteten, waren zu schmal, um sich hindurchzuzwängen. Von draußen hörte sie Stimmen. Männerstimmen.
Auf einem der Treppenabsätze innehaltend, lehnte sie das untere Ende ihres Bogens seitlich an ihren Fuß. Dann bog sie den Bogen und schob die Schlinge am Ende der Sehne in eine Kerbe am oberen Ende. Der gespannte Bogen war zwar auf der schmalen Treppe hinderlich, doch galt es, bereit zu sein.
Das Quaken der Frösche vom Teich hinter der Abtei erschwerte es, die im Hof gewechselten Worte zu verstehen. Als sie den ledernen Schutz an ihrem linken Arm befestigte, blieb sie in der Tür stehen, die sich in die Nacht öffnete. Sie verharrte reglos und beobachtete die Grasfläche.
Im spärlichen Licht des abnehmenden Mondes konnte sie mindestens vier Pferde ausmachen. Hinter dem Haus der Äbtissin mochten weitere verborgen sein. Ein Mann trat ins Licht, zog sich aber sofort wieder in die Schatten zurück wie ein wildes Tier in seinen Bau.
Sie spähte zum Haus der Äbtissin hinüber. Bis auf die Kerze im Fenster über dem Betschemel der Äbtissin brannte kein Licht. Wenn diese Männer sich bei der Schwester Pförtnerin gemeldet hatten, war der Äbtissin inzwischen ihre Ankunft gemeldet worden.
Sie langte hinter sich und entnahm dem Köcher einen Pfeil. Diesen legte sie an die Sehne an, einen Finger darüber, zwei darunter, doch hielt sie den Bogen auf Hüfthöhe. Als sie vorsichtig aus der Tür trat, drückte sie den Rücken an die unebenmäßige Steinmauer des Turmes. Auch sie konnte die Dunkelheit zu ihrem Vorteil nutzen. Unter ihren bloßen Füßen waren die Steinplatten des Hofes noch warm von der untertags aufgenommenen Hitze.
»Wo sind die Frauen?«, fragte einer der Männer, ohne die Stimme zu senken. »Man stelle sich vor … so viele junge Mädchen, die von einem richtigen Mann träumen, der kommt und sie davor bewahrt, jungfräulich zu sterben.«
»Ein ritterlicher Mann würde ihre Träume wahr werden lassen«, setzte ein anderer hinzu.
Seine Worte wurden mit Gelächter aufgenommen.
Als sie den Bogen hob, hörte sie ihre eigene Stimme in ihrem Kopf wie ein
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