Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring
dass er Hethor kaum zur Kenntnis nahm. Bei den wenigen Gelegenheiten, als sie ein paar Worte miteinander gewechselt hatten, war Pryce rücksichtsvoll, wenn auch nicht wirklich freundlich gewesen.
Nun hoffte Hethor, dass der Älteste seines Meisters ihm einen Rat erteilen würde – wenn schon nicht aus christlicher Nächstenliebe, so doch wenigstens aus Loyalität seinem Vater gegenüber.
Pryce verbrachte den größten Teil seiner Studien in Fayerweather Hall, wie Hethor wusste, und er war zuversichtlich, dieses Hochschulgebäude zu finden, sobald er den Campus erreicht hatte. Es war ein schöner Morgen. Die Birken und Ulmen an der Elm Street standen in Blüte, die Blumenbeete erstrahlten in bunten Frühlingsfarben, und die Luft schmeckte nach Mai und kitzelte ihm in der Nase. Das Messingband der Erdumlaufschiene funkelte am wolkenlosen Himmel; vor dem strahlenden Blau erinnerte ihre Wölbung an zwei umgedrehte, golden glänzende Hörner. Es waren so wenige Leute auf den Straßen, dass es Hethor beinahe so vorkam, als gehörte der Tag ihm allein.
Electric-Straßenbahnwagen (Hethor hatte leider nicht das Geld für eine Fahrt) ratterten an ihm vorbei, und vereinzelte Reiter überholten ihn; ansonsten herrschte auf der Straße eine Stille wie am Morgen der Schöpfung. Nicht einmal die Kindermädchen mit ihren Schützlingen waren um diese Zeit unterwegs. Der Morgentau lag noch auf den Blättern und ließ einen schwülen Tag erahnen.
Das Universitätsgelände überraschte Hethor. Da er sich nur in New Haven aufhielt, um hier seine Lehre zu machen, was sieben Tage die Woche in Anspruch nahm, abgesehen von der Schule und dem Kirchengang, hatte er nie Gelegenheit gehabt, sich in der Stadt umzuschauen. Wenn er die Aufträge seines Meisters erledigte, hielt er den Blick gesenkt und sputete sich. Daher kannte Hethor nur wenige, regelmäßig begangene Strecken.
Yale hatte sich mitten ins Herz der Stadt eingeschlichen, als wäre die Universität ein lebenswichtiges Organ. Zuerst waren nur hier und da Gebäude zu sehen – eine Kirche, eine Studentenunterkunft –, die mit unauffälligen Schildern oder dem Universitätswappen gekennzeichnet waren. Dann aber tauchten vor Hethors Augen ausgedehnte Parkanlagen auf, in denen sich große rote Ziegelsteingebäude mit weißen Stuckverzierungen erhoben. Hethors Lateinschule in New Haven war nur eine armselige Kopie dieser ehrwürdigen, Lehre und Forschung geweihten Stätte.
Er entdeckte Fayerweather Hall, als er beinahe gegen einen Wegweiser rannte, auf dem der Weg zum Berkeley Oval ausgeschildert war. Fayerweather war eins von fünf Gebäuden an einer kreisrunden Zufahrt, die direkt von der Elm Street abging.
Hethor packte seinen Buchgurt fester und stieg die abgenutzten Marmorstufen hinauf. Mit ein wenig Glück würde Pryce Bodean sich irgendwo in diesem Gebäude aufhalten. Mit ein wenig mehr Glück würde Pryce sich bereit erklären, mit Hethor zu reden. Und mit noch mehr Glück konnte Hethor vielleicht an seine Schule zurückkehren, ohne vorübergehend suspendiert oder noch härter bestraft zu werden.
***
Der bejahrte Pförtner war beinahe freundlich zu Hethor. Er ließ ihn in einem staubigen Raum warten, der zum größten Teil mit den Reisigbesen vollgestellt war, mit denen man die Bürgersteige fegte. Hethor störte es nicht weiter. Er blickte aus einem der schmutzigen Fenster, das sich in einer merkwürdigen Ausbuchtung der Gebäudefassade befand, und rieb die silberne Feder zwischen seinen Fingern, wobei er darauf achtete, die scharfen Kanten nicht zu berühren.
Auf der Elm Street herrschte nur wenig Verkehr, und es war immer noch ruhig. Innerhalb der Mauern von Fayerweather Hall empfand Hethor beinahe eine Art inneren Frieden.
Beinahe.
Die Tür knarrte, als der Pförtner zurückkam und öffnete. »Mister Bodean erwartet dich im Empfangsraum«, sagte der alte Mann in einem Tonfall, aus dem zu gleichen Teilen Würde und Wichtigtuerei sprachen.
»Vielen Dank.«
Gemeinsam durchquerten sie einen Flur, dessen Glanz die generationenlange Arbeit unzähliger Reinemachfrauen erahnen ließ. Schließlich hielt der Pförtner ihm eine Tür auf, die wohl drei Meter hoch und zwei Meter breit war.
Noch nie hatte jemand Hethor eine Tür aufgehalten.
Im Empfangsraum gab es zwei Tische, an denen zu beiden Seiten Stühle standen. Die Wände verbargen sich hinter Bücherregalen. Hohe, schmale Fenster gaben den Blick auf Bäume frei. Pryce Bodean stand hinter dem zweiten Tisch. Seine
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