Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie
nichts, was ich ihm geben konnte. Tante Carmen hatte meine Socken fünfmal gestopft, an Fersen und Zehen, aber sie waren zu klein für einen erwachsenen Mann.
»Ich versteh das nicht«, sagte ich. »Früher war alles gut. Dad und ich hatten Lammkoteletts und Eiscreme. Die Farmer bestellten ihre Felder und kauften Traktoren, und Lehrer wie Sie hatten einen Posten, und dann, schwupps! , war es damit vorbei.Mein Dad ist fort und jetzt sind wir froh, dass wir zum Mittagessen langweiligen Rübeneintopf haben. Wie konnte das passieren?«
»Gier«, sagte Mr Applegate. »Habgierige Wall-Street-Händler pokern wie Glücksspieler und setzen mehr ein, als sie besitzen. Sie haben den Aktienmarkt so hoch aufgetürmt wie ein Kartenhaus. Sie haben auf Teufel komm raus spekuliert, alles mit geliehenem Geld, und dann ist das Kartenhaus zusammengekracht.«
Von unserer Sonntagsschule Zur Schmerzensreichen Muttergottes wusste ich ganz gut Bescheid über die Habgier. Ich war nicht sicher, ob die Geldwechsler den Leuten im Tempel oder beim Turmbau zu Babel Schmiergeld gezahlt haben, aber darauf kam es jetzt nicht an. So sicher wie das Amen in der Kirche gab es in der Bibel Schmiergeldzahler und Glücksspieler, und ihre Nachkommen waren im Oktober 1929 an der Wall Street eindeutig am Werk gewesen.
Mr Applegate und ich lösten die Rechenaufgaben dieses Tages und büßten bei jeder einzelnen unsere Sünden ab.
»Du träumst doch jetzt nicht von deinen Zügen,Oscar«, mahnte mich Mr Applegate sanft, als meine Augen glasig wurden.
Ich warf einen Blick auf die Küchenuhr. Es war genau 16.15 Uhr. Ich schaute aus dem Fenster. »Heiliger Bimbam!«, sagte ich. »Da sind sie! Gerade steigen sie aus dem Bus! Sie kommen zu früh! Sie müssen durch die Hintertür verschwinden, Mr Applegate!«
Mr Applegate nahm seinen zerschlissenen Mantel und verschwand aus unserer Küche wie ein Kaninchen in der Nacht.
Sie merkten nichts von dem, was fehlte. Glücklicherweise waren der Kochtopf und die Kakaotasse sauber; das Brot lag ordentlich eingewickelt in der Brotdose. Die Bratpfanne hing blitzblank gescheuert an ihrem Haken, alle Spuren von Büchsenfleisch waren beseitigt und die leere Dose lag unter Tante Carmens Kaffeesatz vergraben auf dem Boden der Abfalltonne. Die Küche roch nach meinem Limabohnen-Eintopf.
Ich hob den Kopf von meinem Matheheft. »Ihr seid früh!«, sagte ich so ruhig, wie ich nur konnte.
Tante Carmen nahm ihren Hut ab. »Die Merriweathershaben Windpocken«, verkündete sie, als seien Windpocken ein persönlicher Makel. »Ein großes gelbes Quarantäneschild hing da, gleich neben der Eingangstür. Wegen der Windpocken darf keine Menschenseele hinein oder heraus. Also sind Mary-Louises Klavierstunde und der Deklamationsunterricht ihres Bruders ins Wasser gefallen, die sie dringend nötig gehabt hätten. Wir haben die lange Fahrt nach Ost-Cairo ganz umsonst gemacht und natürlich kann ich ihnen das nicht in Rechnung stellen.«
»Und auch keine Limettentorte«, maulte Willa Sue. »Ich hab mich so darauf gefreut und dann ist da dieses blöde Quarantäneschild und keine Limettentorte!«
Wie oft hatte mein Dad Tante Carmen ermuntert, sich ein Telefon anzuschaffen. »Ich würde dich anrufen, Carmen, und dir die Zeit vertreiben!«, sagte Dad immer. »Dann kannst du mit mir reden und musst dich nicht mit deinen Glimmstängeln trösten!«
Tante Carmen erklärte immer, Telefone seien ein teures Spielzeug, genauso wie elektrische Eisenbahnen. Sie seien ein Luxus für die, die sie sichleisten könnten, nicht für gewöhnliche Leute wie uns.
Das hielt mich nicht davon ab, zu Tante Carmen zu sagen: »Wenn wir ein Telefon hätten, hätte Mrs Merriweather anrufen können …«
»Was ist das?«, unterbrach Willa Sue. Sie hob das Buch der Gedichte für besinnliche Stunden auf und reichte es Tante Carmen über den Tisch. »Dieses Buch ist klatschnass!« Ihre Stimme nahm diesen gewissen Singsang-Hänselton an. »Oscar hat das Haus verlassen! Oscar war in der Bibliothe-hek im Rehegen und hat das Buch ruiniert, und jetzt kann er was erle-heben!«
Tante Carmen öffnete den nassen Deckel der Gedichte für besinnliche Stunden und schlug die Seite auf, wo ein Lesezeichen steckte und wo das »Wenn«-Gedicht von Kipling stand.
»Wem mag dieses Buch gehören, Oscar?«, fragte Tante Carmen.
»Ich weiß es nicht!«, platzte ich heraus. Willa Sue schnaubte verächtlich über den Tisch herüber.
Tante Carmen klappte den hinteren Buchdeckel auf, wo die
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