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Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Titel: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Bibliothek ihre Ausleihkarte einsteckte und darauf das jeweilige Datum der Entleihungsowie der Rückgabe stempelte. Sie fuhr mit ihrem Fingernagel die Kolonne der gestempelten Daten entlang.
    »Sieh an«, sagte sie. »Es scheint, als wäre dieses Buch heute, am achtzehnten November, ausgeliehen worden, Oscar!«
    Ich suchte fieberhaft nach Erklärungen, aber die waren gar nicht nötig.
    Tante Carmen überflog noch einmal die Kolonne der Datumsstempel. »Interessant!«, sagte sie. »Dieses Buch der Gedichte für besinnliche Stunden wurde vom Frühherbst an wöchentlich in der öffentlichen Bibliothek von Cairo entliehen. Hmm! Davor in zehn Jahren kein einziges Mal. Im Frühherbst habe ich angefangen, dich allein zu Hause zu lassen. Das muss dein Lieblingsbuch sein, Oscar. ›Wenn‹ muss dein Lieblingsgedicht sein!«
    Ich schüttelte den Kopf und nickte gleichzeitig: nein – ja. Ich konnte nicht verhindern, dass ich rot anlief wie eine rote Rübe.
    »Oscar«, sagte Tante Carmen und schlug das Buch zu, »hast du heute das Haus verlassen und bist ohne Erlaubnis in die Stadt zur Bibliothek gegangen?«
    »Nein, Ma’am«, murmelte ich.
    »Dann erklär mir bitte, Oscar, wie du zu diesem klatschnassen Buch kommst, das heute in der Bibliothek entliehen wurde!«, verlangte sie und sah mich mit ihren blitzblauen Augen an.

Selbst wenn ich Blinddarmentzündung oder ein gebrochenes Bein hätte, würde Tante Carmen mich nie wieder allein zu Hause lassen. Sie traute mir nicht, wie sehr ich auch beteuerte, dass ich ganz bestimmt kein Gesindel hereinlassen, weder mich selbst noch ihre Porzellanfigurensammlung und was immer sie sonst auf der Welt besaß, einer Gefahr aussetzen würde. »Stehlen, stehlen, stehlen! Das ist alles, was diese Landstreicher können«, erklärte sie mir im Verlauf ihrer Strafpredigt. »Und du hast ihn hereingelassen , Oscar! Einen dahergelaufenen Lumpen, als wäre er ein kirchlicher Würdenträger!«
    Es war zwecklos, Tante Carmen zu versichern, dass Mr Applegate alles andere als ein dahergelaufener Lump war.
    Zur Strafe dafür, dass ich einen Fremden ins Haus gelassen hatte, musste ich jeden Abend bis Weihnachten zehnmal Rudyard Kiplings Gedicht »Wenn« in mein Schulheft abschreiben. Ich war damit nicht allein. In der Welt des Deklamierens stand Rudyard Kiplings »Wenn« hoch im Kurs. Zweifellos war es bei Tante Carmens Dienstgebern die Nummer eins. Jeder wollte, dass sein Sohn es vortrug. Fast alle ihre unglücklichen Schüler mussten sämtliche zweiunddreißig Zeilen des Gedichts auswendig lernen und in strammer Haltung aufsagen.
    Von jenem Tag an musste ich zum Klavier- und Deklamationsunterricht mitkommen und meine Hausaufgaben machen, wo immer wir gerade den Nachmittag verbrachten.
    Mit dem Bus gelangten wir in die wohlhabenderen Stadtviertel. Die Unterrichtsstunden führten uns in die Villen von Leuten, die es sich leisten konnten, dass Tante Carmen ihren Töchtern beibrachte, die Mondscheinsonate zu spielen, und ihren Söhnen, die Abschiedsrede von George Washington vorzutragen. Sie hatten Köchinnen, Gärtner und Auffahrten mit Autos darin. Sie besaßen Telefone und die Telefone hatten ganze Räume für sich allein. Ihre Häuserwaren mit antiken Schränken und Tischen aus glänzendem Kirschbaumholz eingerichtet, die nach Zitronenöl-Möbelpolitur rochen. In den Wohnzimmern befanden sich dicke Orientteppiche und gepolsterte Sessel. Die köstlichen Speisedüfte aus den Küchen hatten nichts mit den Gerüchen gemein, die aus Tante Carmens Sparherd wehten.
    Tante Carmen hatte immer ein misstrauisches Auge auf mich, während ich an fremden Esstischen und in unvertrauten Kaminecken meine Hausaufgaben machte. Wenn ich in einem der ellbogentief gepolsterten Sofas versank, wurde ich angehalten, auf einem harten Holzstuhl zu sitzen.
    Willa Sue brachte ihre Puppen zu diesen Unterrichtsstunden mit. Sie zog sie an und aus und führte sie spazieren. Sie konnte endlos damit spielen. Es war mir peinlich, auch nur im selben Zimmer mit ihr zu sein. Mütter und Köchinnen meinten, Willa Sue habe einen engelsgleichen Mund, genau wie Shirley Temple, der Hollywood-Kinderstar, und fanden sie entzückend. Sie gaben Willa Sue Kuchenund Tortenstücke zu kosten. Dagegen betrachteten sie mich mit meinem Mathematikbuch, als wäre ich eine streunende Katze. Manchmal gaben sie mir einGummibonbon, das ich auf einen missbilligenden Blick von Tante Carmen hin ausspucken musste, sobald sie nicht herschauten.
    Ich erduldete es. Das

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