Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie
dachten wir uns nun Beispiele aus, um die Worte mit Leben zu erfüllen. Wir bauten »Eselsbrücken«, die uns halfen, uns den Text des Gedichts einzuprägen. Die erste Strophe konnte ich bald so fließend aufsagen wie »Weißt du, wie viel Sternlein stehen«. Jeden Nachmittag nahmen Mr Applegate und ich uns eine neue Strophe vor, bis ich das ganze Gedicht auswendig konnte.
Eines Tages waren uns die Milch und die Eier ausgegangen. Ich wagte nicht, eine Dose Truthahnpastetenersatz zu öffnen, geschweige denn eine Büchse Stockfischscheiben, weil ich Angst hatte,Tante Carmen könnte es merken. Dann kam mir die Idee.
»Wissen Sie was!«, sagte ich zu Mr Applegate. »Im Keller ist ein ganzer Karton Fleischkonserven versteckt. Mein Dad hat sie von zu Hause mitgebracht. Ich denke, diese Konservenbüchsen gehören eindeutig mir.« Ich machte für Mr Applegate ein schönes heißes Toast-Sandwich mit Fleischpastete. Es schmeckte ihm köstlich. Er sagte, es verleihe ihm Energie.
»Lass mich deine letzten Rechenaufgaben von Mrs Olderby sehen«, sagte er. »Krempeln wir die Ärmel auf und gehn an die Arbeit.«
Wir arbeiteten täglich von halb vier bis fünf, während die Tage kürzer und kälter wurden. Tante Carmen fragte nie nach den fehlenden Brotscheiben. Sie entdeckte nie das Versteck von Dads Fleischkonserven hinter dem Wassertank.
Tante Carmen spendierte mir nicht gerade ein Lächeln noch äußerte sie Lob, aber sie spitzte die Lippen und sagte: »Oscar, deine Mathematiknoten sind akzeptabler geworden.«
Ich strahlte, aber Tante Carmen dämpfte meine Freude, indem sie hinzufügte: »Es scheint, als hättestdu ein besseres Gespür für Zahlen als dein Vater. Dein Vater hat ein unmögliches Verhältnis zu Zahlen und zu Geld. Deshalb hat er es für diese dummen Eisenbahnzüge ausgegeben und sich an den Bettelstab gebracht.«
»Ich hoffe, ich bekomme bald eine Zwei, Ma’am«, warf ich wie nebenbei ein.
»Harte Arbeit macht sich bezahlt, Oscar«, sagte sie. »Ich hoffe, dein Vater wird ebenfalls eine harte Arbeit finden.«
Neun Postkarten waren von meinem Dad gekommen. Jede zeigte ein Bild von einer anderen Stadt in einem anderen Bundesstaat. Er war von Topeka nach Little Rock und von da nach Neumexiko, Arizona, dann nach Fresno, Kalifornien, gereist. Nirgends gab es Arbeit, und ich vermutete, dass ihm allmählich das Geld ausging. Ich hatte keine Adresse, an die ich ihm schreiben konnte. Ich fühlte mich wie gelähmt, weil ich seine Karten nicht beantworten konnte.
Meine Augen brannten, und fast brach ich in peinliche Tränen aus, wenn ich beim Abendessen oder in der Schule an ihn dachte. Also versuchte ich mir stattdessen Los Angeles, die Stadt der Engel,vorzustellen. In meinem geistigen Auge war sie eine Stadt von Tempeln und Orangenbäumen, herrlicher als eines der sieben Weltwunder. Mittendrin war der Bahnhof. In seinen sagenhaften Hallen lief mein Dad auf goldgesprenkeltem Marmor meinem Zug entgegen und schmolz den Eispanzer, der mein Herz umschloss, hinweg.
Am 18 . November gingen den ganzen Nachmittag Graupelschauer nieder. Ich fürchtete, Mr Applegate würde bei dem schlechten Wetter nicht kommen, aber er erschien trotzdem. Es war zu kalt, um draußen auf der Veranda zu sitzen. Nervös schaute ich auf die Uhr. Noch zwei Stunden, bis Tante Carmen und Willa Sue um 17.51 Uhr aus dem Bus der Nummer 17 steigen und die Straße heraufkommen würden.
»Wir können für eine Weile reingehen«, sagte ich. »Ich glaube nicht, dass sie davon was merken.«
Ich machte Mr Applegate eine Tasse Kakao zu seinem Fleischpastetensandwich. Er war mir dankbar. »Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde, Oscar«, sagte er und wischte sich den Mund an seinem Ärmel ab. »Das Essen gibt mir Kraft. Heute Nacht habe ich einen Gelegenheitsjob. Bringt einenDollar pro Stunde. Schnee und Eis schippen für irgendeinen reichen Herrn oben in River Heights. Seine Auffahrt wird voller Luxuslimousinen stehen und diese Herrschaften wollen nicht ausrutschen und hinfallen. Einer der Gärtner sagte, der Boss könnte vielleicht einen dauerhaften Job in der Innenstadt für mich haben. Wir werden sehen.«
»Was für einen Job?«, fragte ich.
Das wusste Mr Applegate nicht. Seine Nase lief und er schnäuzte sich geräuschvoll in sein Taschentuch. »Meine Schuhe haben Löcher«, sagte er mit Schnupfenstimme. »Ich hab mir eine Erkältung geholt.«
Ich wünschte, ich hätte wenigstens ein trockenes Paar Socken für Mr Applegate. Ich hatte
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