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Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Titel: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Toilette war in einem Winkel unter der Treppe versteckt. Ich öffnete die Tür und schlug sie fest zu, sodass Tante Carmen es hören konnte. Ich vermutete, Cyril würde volle zwanzig Minuten brauchen, um mit der ersten Strophe von »Wenn« fertig zu werden.
    Wie eine Katze flog ich die Treppe hinauf und warf einen kurzen Blick in jedes Schlafzimmer. Es stellte sich heraus, dass Cyrils Zimmer das letzte im oberen Flur war. Vorsichtig, damit sie so wenig wie möglich knarrte, öffnete ich die drei Meter hohe Mahagonitür. Eine tiefrote Harvard-Fahne schmückte die Wand über dem Bett. Auf dem Bett türmten sich Football-Bälle, Baseball-Bälle, Schallplatten und ein Football-Helm mit einem H an der Seite. Cyril hatte gehämmerte Schwerter, einen Baseball-Fanghandschuh und Pfeil und Bogen, alles auf dem Fußboden verstreut. Auf dem Stuhl lag die restliche Baseball-Ausrüstung: Gesichtsmaske, Brustschutz und Knie- und Schienbeinschützer. Zwei Tennisschläger lagen unter einem Cowboyhut auf dem Heizkörper. Cyril besaß zwei verchromteTrommelrevolver mit sechs Kammern. Die Halfter mit ihrem nachgemachten Patronengürtel hingen am Bettpfosten, an den Revolvergriffen funkelten rote Edelsteine. Überall lagen schmutzige Socken herum, aber Eisenbahnzüge waren nirgends zu sehen. Weit und breit keine Spur von Zügen oder Teilen der Anlage.
    Ich machte kehrt, um die Treppe wieder hinunterzusausen, als ich auf dem Bett eins von Cyrils Schulheften entdeckte. Es war aufgeschlagen und es schien sich um eine Klassenarbeit zu handeln. Als mein Blick auf die Zensur fiel, gab es mir einen Stich und mein Mund wurde trocken. Cyril Pettishanks, bestimmt für Harvard, für die Nationalbank und und und, hatte in der Prüfungsarbeit der fünften Klasse versagt. Seine Handschrift war nicht besser als die eines Erstklässlers.
    ›Reiß dich zusammen, Junge! ‹, hatte der Lehrer unter das Ungenügend geschrieben.

    Am nächsten Montag war es nur eine Frage der Zeit, bis Cyril bis zum Hals im Morast des Gedichts steckte. Besondere Schwierigkeiten bereitete ihm:
    Wenn du träumen kannst –
    und dich nicht von Träumen beherrschen lässt;
    Wenn du denken kannst –
    und Denken nicht dein Lebenszweck ist;
    Wenn du Glück und Unglück ertragen kannst
    und beide Unwägbarkeiten mit dem
    gleichen Maßstab misst …

    Was er sich ungefähr so zusammenreimte: »Wenn du deine Träume beherrschen kannst« und »Wenn du Glück im Unglück hast«.
    »Es heißt dein Lebenszweck , nicht Ziel , Cyril «, korrigierte Tante Carmen. »Und Unwägbarkeiten , nicht Unlösbarkeiten !« Cyril schaukelte den Ohrensessel so heftig vor und zurück, dass der Sessel umkippte.
    Geduldiger als seine Schwester Betsy stellte Cyril den Sessel wieder auf und fing, ohne zu murren, immer wieder von vorn an. Er trat von einem Fuß auf den anderen. Er steckte seine Hände in die Taschen, worauf ihn Tante Carmen aufforderte, sie aus den Taschen zu nehmen, weil Rudyard Kipling ein englischer Gentleman im Dschungel war und englische Gentlemen niemals ihre Hände in die Taschensteckten, wenn sie im Dschungel waren. »Sprich deutlich. Nuschle nicht, Cyril«, sagte sie. »Beginne bei ›Wenn du all deine Gewinne auf einen Haufen legen kannst‹. «
    Ich hätte Cyril bedauert, wenn er nicht – unverdient und von mir unverschuldet – im Besitz meiner Züge gewesen wäre. Noch einmal ging ich zur Toilette. Ich öffnete die Tür und schloss sie fest, als Cyril stotternd sagte: »Wenn du all deine Gewinne über den Haufen werfen kannst.«
    Diesmal rannte ich Hals über Kopf durch die Küche und fand die Tür zum Keller. Ich schaltete das Deckenlicht an und stürmte hinunter. Drei komplette Ritterrüstungen standen am Fuß der Treppe; in den Ecken stapelten sich Möbelstücke und jede Menge angelaufenes Silberbesteck, aber keine Eisenbahnzüge. An der Wand entlang stapelten sich alte National Geographic- Hefte . Eine Schneiderpuppe war im Geweih eines riesigen Elchs eingeklemmt, aber von meinen Eisenbahnzügen war nichts zu sehen, nicht einmal die Kartons, in denen sie verstaut sein könnten.Zwei Wochen vor Weihnachten gelang es mir, zum Dachgeschoss der Pettishanks vorzudringen. Ich wartete, bis Cyril zu der Stelle kam:
    Wenn du zu den Massen sprechen kannst –
    und deine Reinheit dir bewahrst,
    der mit Königen parlieren –
    ohne den Kontakt mit dem Volk zu verlieren ,
    was er in »mit Königen dinieren« änderte.
    » Parlieren , Cyril, nicht dinieren ! Noch einmal von vorne,

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