Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie
Versagen seines Sohnes dessen eigene oder Tante Carmens Schuld war. Wenn Mr Pettishanks zu dem Schluss kam, es sei Tante Carmens Schuld, dass Cyril das Gedicht nicht konnte, dann würde sie gefeuert. Wenn Tante Carmen von den Pettishanks gefeuert wurde, dann würde das Gemunkel,dass Tante Carmen eine zweitklassige Hauslehrerin sei, bald die Runde machen und sie würde alle ihre Dienstgeber in River Heights verlieren. Mr Pettishanks prüfte nicht mich. Er prüfte Tante Carmen.
Ich las nicht von der Decke ab. Ich sagte nicht »auf einen Haufen werfen«. Ich stand kerzengerade und blickte Mr Pettishanks ins Auge. Ich stolperte nicht über Unwägbarkeiten. Ich gestikulierte mit meiner rechten Hand, wie Rudyard Kipling es getan haben könnte, mitten im indischen Dschungel. Die Worte strömten aus meinem Mund, so vollkommen wie ein Lied. Leichtfüßig, ohne ein einziges Mal zu stolpern, gelangte ich bis ans Ende:
»Wenn du im Streckenlauf die unerbittliche Minute mit sechzig Sekunden füllen kannst, Dann ist die Erde dein und alles, was sie trägt, und – mehr als das, mein Sohn – du wirst ein Mann!«
»Gut«, sagte Mr Pettishanks und zog an seiner Zigarre. »Du bist ein kluger Junge. Ich mag kluge Jungen. Hier ist das Fahrgeld für den Bus und ein Zehncentstück für deine Mühe. Fahr zu meinerBank hinunter und gibt dem Nachtwächter dieses Paket. Sag ihm, er soll es in den Schreibtisch des ersten Schalterbeamten tun.«
Er wandte sich zum Gehen. Cyril war ins Zimmer geschlichen, wischte sich den Mund an der Manschette seines Hemds ab und blickte seinen Vater an, wie eine Maus eine Eule beäugen mochte.
»Lern es, mein Sohn«, befahl Mr Pettishanks, als wolle er mit seinen Worten Löcher in Cyril bohren, »oder du landest in einer militärischen Erziehungsanstalt. Du kannst auf deinen letzten Dollar wetten, dass sie dir dort ab fünf Uhr früh Disziplin eindrillen!«
»Bitte nicht, Vater!«, wimmerte Cyril.
Mr Pettishanks packte seinen Sohn am Latz seines durchgeschwitzten Hemds. Er löste Cyrils Krawatte, band sie neu und schob den Knoten hoch zu Cyrils Hals hinauf. In einem Flüsterton, den jeder im Raum hören konnte, zischte er ihm zu: »Ich habe Harvard mit Auszeichnung abgeschlossen. Dein Großvater ebenfalls, und sein Vater vor ihm auch. Mein Sohn wird nicht der erste Versager in der Familie sein. Hast du mich verstanden, Cyril?«
»Ja, Sir«, sagte Cyril und warf aus dem Augenwinkel einen Blick auf mich.
»Es sind noch zwei Wochen bis Weihnachten. Bis Neujahr kannst du das Gedicht oder du findest dich in einer Kadettenuniform beim Drill auf dem Exerzierplatz wieder. Denk darüber nach, mein Sohn. Eiskalte Dusche morgens und abends. Der Exerzierplatz ist mit Rollsplitt bestreut. Er wird Schleifer genannt. Darauf lassen sie dich Liegestütze machen.«
»Ja, Sir«, sagte Cyril. Sein Blick war stumpf.
Sein Vater ließ sein Hemd los und zog mit einem kleinen Ruck an Cyrils Krawatte. »Wir können nicht zulassen, dass dich die Schüler der öffentlichen Schule überflügeln und nach deinem Platz in Harvard greifen.« Mr Pettishanks betrachtete mich und lächelte humorlos über seinen Scherz.
Cyril gab sich Mühe zu lachen. Aber als sein Vater sich zum Gehen wandte, knurrte er mir zu: »Du bist ein mickriger Wurm, Ogilvie. Ich krieg dich!«
»Tu, was dir Mr Pettishanks aufgetragen hat, Oscar«, sagte Tante Carmen, als wäre nichts geschehen. »Trödle nicht. Nimm den Bus Nummer siebzehn nach Hause, wenn du deinen Botengang erledigt hast.«
Als ich aus der Eingangstür trat, schlug ich fast einen Purzelbaum vor Glück. Frei. Frei wie ein Sperling am Himmel für mindestens eine Stunde. Unbeobachtet und unbemerkt bestieg ich den Bus und warf meine Münze in den Schlitz wie all die freien erwachsenen Bürger. Ebenso gut hätte ich in Brasilien sein können. Ich hob mein Gesicht dorthin, wo Gott sich vielleicht verbarg. Ein kleines Dankgebet erblühte in meinem Herzen und ich schickte es zum Himmel. Irgendwie hatte ich das Glückslos gezogen und meinen Dad anstatt Mr Pettishanks als Vater erwischt. Cyril würde dieses Gedicht nie erlernen. Mit all seinem Geld und seinen Privilegien würde er in der Kadettenanstalt von Missouri landen, auf der anderen Seite des Flusses. Jeder wusste, wie es dort zuging. Manchmal konnte man zusehen, wie die Zöglinge geschliffen wurden, und die Befehle hören, die der Wind herübertrug. Mein Dad pflegte zu sagen: »Die Kadettenanstalt soll eine Schule für untaugliche Jungen
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