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Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Titel: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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bitte«, sagte Tante Carmen.
    Ich schlich die Dachbodentreppe hinauf. Dort gab es nichts als Sommerkleider und Beutel mit Mottenkugeln, die überall hingen. Keine Eisenbahnzüge. Wo waren sie?
    Unten hatte Cyril wahrlich nichts zu lachen. Ich schlich an meinen Platz am Esstisch zurück und beugte mich wieder über mein Geschichtsbuch. Cyril war bis zu Wenn du Herz und Nerv und Sehne zwingen kannst gekommen, was zu »Herz und Nerv und Seele« wurde.
    »Herz und Nerv und Sehne , Cyril. Sehne , nicht Seele. Wiederhole diese Strophe noch einmal von Anfang an«, sagte Tante Carmen.
    Cyril begann noch einmal. Wieder sagte er »Herz und Seele«.
    Plötzlich kam Mr Pettishanks, eine Macanudo in der Hand, ins Zimmer geschlendert. Er schnitt mit einem silbernen Instrument die Spitze der Zigarre ab, zündete sie an und blies eine lange himmelblaue Rauchfahne in den Raum.
    »Wie kommst du voran, mein Sohn?«, fragte er. »Kannst du das Kipling-Gedicht auswendig? Sollte bald so weit sein! Als ich in deinem Alter war, prägte ich mir dreißig Zeilen Shakespeare an einem Abend ein!«
    Ich hielt mitten im Lernen inne. Sogar Willa Sue wurde still und legte ihre Puppen zur Seite.
    »Lass hören, mein Sohn«, befahl sein Vater. »Und steck dein Hemd in die Hose!«
    Cyril begann zu schwitzen. Sein rotwangiges Gesicht wurde noch röter. Er holte Luft wie für einen Kopfsprung ins Wasser und stotterte: »Wenn du deinen Kopf behältst, wo alle um dich herum ihre Köpfe verlieren und dir die Schuld in die Schuhe schieben …« Cyril kämpfte sich durch bis »von Träumen beherrschen lässt«. Dann, nach »Glück und Unglück«, verstummte er.
    Ein Vorhang des Schweigens senkte sich auf den Raum. Ich hatte mich komplett in Cyril hineinversetzt, während er durch den Text stolperte. Ich konnte nicht anders. Er hatte solche Angst vor seinem Vater, dass ich fürchtete, er würde sich gleich in die Hose machen. Ohne nachzudenken hatte ich die Verse, Wort für Wort, lautlos mit meinem Mund geformt, in der Hoffnung, Cyril könne sie von meinen Lippen ablesen. Ich versuchte, ihn den Rhythmus fühlen zu lassen und sein Ohr für die Reime zu schärfen: parlieren – verlieren , ist – misst, ermüden – lügen. Ich hatte nicht bemerkt, dass Mr Pettishanks’ Augen auf mich gerichtet waren.
    »Was tust du, Junge?«, fragte er mich und blies mir einen neuen Rauchring zu.
    »Ich … Sir, ich habe nur … mit Cyril mitrezitiert, Sir. Ich habe mir nichts Schlimmes dabei gedacht.«
    Tante Carmen durchbohrte mich mit ihren Augen.
    »Cyril, sag das Gedicht zu Ende auf!«, befahl sein Vater.
    Gebot und Not; hassen und lassen ! Meine Lippen waren bereit, jede Silbe für Cyril vorzuformen, damit er sie einen halben Takt später nachsprechenkonnte. Aber Cyril war von Panik ergriffen. Fast konnte ich sein Herz quer durchs Zimmer schlagen hören. Er drehte sich auf dem Absatz um und rannte zur Toilette, wo wir alle ihn laut und deutlich kotzen hörten.
    Niemand rührte sich. Mr Pettishanks stippte die Asche von seiner Zigarre in einen grünen Marmoraschenbecher mit zwei bronzenen Irish Settern obendrauf. »Kannst du das Gedicht zu Ende sprechen, Junge?«, fragte er mich.
    Konnte ich Kiplings »Wenn« zu Ende aufsagen? Eine Kopie steckte in meiner Manteltasche und ich wusste jedes Wort im Schlaf. Oder mit Königen parlieren verfolgte mich bis in meine Träume.
    Wenn du’s ertragen kannst, die Wahrheit über
    dich zu hören
    tauchte ungerufen in meiner Badewanne auf. Beim Mittagessen waren alle zweihundertzweiundfünzig Worte Bohne für Bohne in meinem Mund gelandet. Ich musste nicht nur jeden Abend zehnmal den gesamten Wortlaut des Gedichts schreiben; an fünfNachmittagen der Woche musste ich auch noch vier anderen armen Teufeln wie Cyril zuhören, die sich damit abmühten.
    Ich stand auf – ob aus Respekt vor Mr Pettishanks oder vor Kipling, wusste ich nicht genau.
    »Darf ich es von Anfang an aufsagen, Sir?«, fragte ich.
    »Nur los, Junge!«, antwortete Mr Pettishanks. Er pflanzte einen seiner maßgefertigten Schuhe auf den Sitz eines Esszimmerstuhls und beobachtete mich wie ein Habicht. Seine Augen schweiften zu Tante Carmen. Tante Carmen saß bewegungslos. Plötzlich wusste ich, dass sie in diesem Moment eine Angeklagte war, die ihre Hinrichtung erwartete. Ihre Augen ließen meine nicht los. In ihrem Gesicht kämpften Hoffnung und Furcht, und all das zusammen spiegelte sich in ihren Augen.
    Schlagartig wurde mir klar: Mr Pettishanks wollte wissen, ob das

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