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Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Titel: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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AUSSER KRAFT GESETZT WERDEN, WIRD CLAIRE S. BISTER KURZ DARAUF VERSCHWINDEN, GENAU WIE WEIHNACHTEN 1926.
    Claire gab mir alte Kleider ihres Bruders und ich zog sie an. Sie passten besser als die Sachen von Bullock, die jetzt an mir hingen wie an einer Vogelscheuche. Ich schlich auf den Flur und die Treppe hinunter. Jeder Schritt tat mir weh, als würde ich von einem Maultier getreten.
    Drei Polizisten lungerten in der Vorhalle herum. Claire hatte recht, sie schenkten mir nicht mehr Beachtung, als sie vielleicht einer vorbeisurrenden Fliege geschenkt hätten. Ich warf Claires Brief ineinen großen geflochtenen Korb, der in der Mitte des Postraums stand. Das Gebäude war so luxuriös, dass sogar die Vorhalle nach geschmolzener Butter und Lilien duftete.
    Unbemerkt schlüpfte ich aus dem Haus, vorbei an Bruno, der sich mit der Polizei über die Chancen der Dodgers in der kommenden Baseballsaison unterhielt. Niemand blickte auch nur hoch. Ich schlenderte zwei Häuser weiter und sah das große weiß-rote Schild Schrafft. Ich war noch nie in einem Restaurant gewesen und hatte noch nie für mich selbst bestellt, nicht einmal als ich elf war. Würden sie mich auslachen oder hinauswerfen? Ich setzte mich an die Theke. Es war nicht viel anders als in Mr Kinoshuras Getränkeladen, wo Dad und ich immer auf ein Glas Limonade eingekehrt waren. Außer dass meine Füße die Fußstütze des Hockers nicht erreichten. So selbstbewusst wie möglich bestellte ich eine heiße Schokolade.
    »Du bist ziemlich jung, um in einem Restaurant zu bestellen, Schätzchen«, sagte die Kellnerin ein wenig zweifelnd.
    Würde sie die Polizei rufen und mich anzeigen? Bei diesem Gedanken trat mir der Schweiß auf dieStirn. »Meine Mutter kommt und holt mich ab«, erklärte ich. »Sie macht nur ein paar Einkäufe und dann ist sie gleich hier.«
    Die Kellnerin brachte mir meine Schokolade und stellte sie auf ein Papierdeckchen vor mich hin. »Hier, junger Mann! Und trink schön langsam«, zwitscherte sie. Dann nahm sie meine Serviette und steckte sie mir unters Kinn.
    »Darf ich fragen, wie spät es ist, Ma’am?«, bat ich höflich.
    »Natürlich!«, sagte die Kellnerin. Sie nahm ihre Armbanduhr ab, damit ich das Zifferblatt sehen konnte. »Also schau, das ist der große Zeiger und das ist der kleine Zeiger. Weißt du, was der große und der kleine Zeiger sagen?«
    »Wie bitte, Ma’am?«, sagte ich.
    »Kannst du schon zählen?«, fragte sie lächelnd. »Kannst du die Uhr lesen?«
    »Zählen? Ich kann lange Teilungen und Bruchrechnungen«, antwortete ich.
    »Aber du bist doch nicht älter als sechs Jahre!«, sagte sie.
    Tu nichts, um Aufmerksamkeit zu erregen, Oscar! Claires Warnung fiel mir schlagartig wieder ein.
    Ich legte meine zwanzig Cent auf die Theke, in der Hoffnung, die Kellnerin abzulenken. Sie brachte mir fünf Cent Wechselgeld zurück. »Ein, zwei, drei, vier, fünf Pennys!«, sagte sie fröhlich.
    »Behalten Sie das Wechselgeld, Ma’am«, murmelte ich.
    Die Kellnerin sah mich noch komischer an als zuvor und schielte zur Tür, ob meine Mutter endlich kam, um mich abzuholen.
    Zu meinem Glück schlugen ein Stück entfernt Kirchenglocken die halbe Stunde. Draußen fuhren zwei Polizeistreifen mit heulenden Sirenen stadteinwärts an dem großen Fenster des Restaurants vorbei. Die Sirenen der Streifenwagen verhallten allmählich im Verkehrslärm. Ich rutschte von meinem Sitz an der Theke und huschte aus der Tür, bevor die Kellnerin noch mehr Fragen nach meiner Mutter stellen konnte.
    Zwanglos schlenderte ich am Eingang von Claires Apartmenthaus vorüber. Keine Polizisten in Sicht. Ich warf einen prüfenden Blick auf die andere Straßenseite und schaute in die Telefonzelle an der Ecke und in die parkenden Autos. Keine Polizisten. Ich ging um den ganzen Block und schlüpfte dann indie Vorhalle. Da die Luft rein war, trabte ich geradewegs zu Bruno. »Den Brief für Miss Claire Bister, bitte«, sagte ich.
    Bruno schien wie aus allen Wolken zu fallen. »Aber du bist doch noch …«
    Ich schnappte den Brief aus seiner Hand und sauste wieder durch die gläserne Drehtür hinaus, bevor er noch etwas sagen konnte. Dann verschwand ich im Seiteneingang. So schnell es meine schmerzenden Rippen erlaubten, stürmte ich die Treppen hinauf.
    Ich fiel aufs Bett. »Ich mache heute keinen Schritt mehr«, stöhnte ich.
    Claire öffnete den Brief. »Aha!«, sagte sie. »Ich hab gewusst, dass sie unterzeichnen werden! Ich hab gewonnen! Sie haben voll und ganz

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