Die Ranch
emotional gestörte Kinder in einem Hospital in Harlem.
Sie saß im Aufsichtsrat des Metropolitan Museum of Art und des Lincoln Center. Jedes Jahr arrangierte sie Spendenaktionen, einfach nur, weil sie immer wieder um Hilfe gebeten wurde. Und so beschäftigte sie sich unentwegt, vor allem, seit die Kinder nicht mehr da waren und Bill jeden Abend ziemlich lange im Büro blieb. Als Seniorpartner einer internationalen Anwaltskanzlei in der Wall Street erledigte er alle bedeutsamen Fälle, die mit Deutschland und England zusammenhingen. In erster Linie war er Prozessanwalt, und Marys soziales Engagement kam seinem ausgezeichneten Ruf zugute. Und sie gab wundervolle Partys für ihn. Aber dieses Jahr war etwas ruhiger verlaufen. In den letzten Monaten hatte er oft nach London fliegen müssen, um einen Sensationsprozess vorzubereiten, und Mary Stuart befasste sich mit ihrer Wohltätigkeitsarbeit.
Da Alyssa in Paris an der Sorbonne studierte, fand Mary Stuart mehr Zeit für sich selbst. Sie übernahm weitere Wohlfahrtsjobs, las sehr viel und verbrachte die Wochenenden im Hospital. An manchen Sonntagen blieb sie mit einem Buch im Bett oder verschlang die
New York Times.
Ihr Leben war ausgefüllt, und wer sie beobachtete, hätte niemals vermutet, dass ihr irgendetwas fehlen würde. Sie sah um mindestens fünf oder sechs Jahre jünger aus. In diesem Jahr hatte sie allerdings abgenommen, was an ihrem Alter liegen mochte, doch so war es nicht. Aber mit ihrer schlanken Figur wirkte sie noch jugendlicher. Sie strahlte eine gewinnende Sanftmut aus, die vor allem ihre kleinen Schützlinge in der Klinik zu schätzen wussten. Dank ihrer Herzenswärme überbrückte sie alle gesellschaftlichen Unterschiede und ließ vergessen, aus welcher Welt sie stammte. Etwas Rührendes, fast Wehmütiges haftete ihr an und weckte den Eindruck, sie würde das Leid anderer auf Grund eigener Erfahrungen verstehen. Trotzdem zeigte sie sich niemals deprimiert. In ihrem Leben schien alles bestens zu funktionieren. Sie hatte wohl geratene Kinder und einen erfolgreichen, gut situierten Ehemann, der einen Aufsehen erregenden, internationalen Prozess nach dem anderen gewann und in juristischen Kreisen ebenso respektiert wurde wie in gesellschaftlichen. Mary Stuart hatte alles, was man sich nur wünschen konnte.
Und doch merkte man ihr manchmal eine gewisse Melancholie an, die das Gefühl von Einsamkeit andeutete. Seltsam – wie konnte eine rundum glückliche Frau einsam sein?
Das kam einem unwahrscheinlich vor, wenn man sie nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen betrachtete, und man zweifelte an seiner eigenen Intuition. Es gab keinen Grund, warum sich Mary Stuart Walker einsam oder traurig fühlen sollte. Aber wenn man genau hinschaute, erkannte man eine gewisse Tragik hinter der eleganten Fassade.
Der Mann an der Kasse grinste sie an. »Wie geht's Ihnen heute, Mrs. Walker?« Er mochte sie, weil sie ihn immer höflich behandelte, nach seiner Frau und den Kindern fragte. Und als seine Mutter noch lebte, hatte sich Mrs. Walker jahrelang nach ihrem Befinden erkundigt. Früher war sie mit den Kindern in den Supermarkt gekommen, aber jetzt kaufte sie allein ein und schwatzte mit ihm. Es wäre schwierig gewesen, sie nicht zu mögen.
»Danke, gut, Charlie.« Sie lächelte und wirkte viel jünger. Wenn sie an den Wochenenden in den Laden kam, trug sie manchmal Jeans und sah wie ihre Tochter aus. »Wie heiß es heute ist …« Aber sie erweckte nicht den Eindruck, dass sie schwitzen würde. An eisigen Wintertagen, wenn andere Leute dicke Mäntel, Wollmützen, Schals und Stiefel trugen, kleidete sie sich elegant wie eh und je. Und im Sommer, wenn die meisten Stadtbewohner unter der mörderischen Hitze litten, blieb Mrs. Walker kühl und gelassen. Bei ihrem Anblick glaubte man, dass nichts in ihrem Leben jemals schief gehen könnte, sie niemals die Kontrolle verlieren würde – und ganz gewiss nicht die Beherrschung. Und er hatte sie mit den Kindern lachen sehen. Die Tochter war eine Schönheit, der Sohn ein guter Junge; nur den Ehemann fand Charlie etwas steif. Aber wer wusste schon, was andere Menschen glücklich machte? Jedenfalls waren sie eine nette Familie. Offenbar hielt sich der Mann wieder mal in der Stadt auf, weil sie zwei Filet Mignons gekauft hatte.
»Morgen soll's noch heißer werden«, bemerkte er und packte ihre Sachen ein. Dabei beobachtete er, wie sie einen Blick auf den
Enquirer
warf und missbilligend die Stirn runzelte. Die international
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