Die Ranch
in Yale weiter studieren, und sicherlich würde sie gelegentlich ein Wochenende zu Hause verbringen.
Mary Stuart ging in ihr kleines Arbeitszimmer und schaltete den Anrufbeantworter ein. Erfreut hörte sie Alyssas Stimme. »Hi, Mom, tut mir Leid, dass ich dich nicht erreiche. Ich wollte nur fragen, wie's dir geht. Jetzt ist es in Paris zehn Uhr abends, und ich treffe mich mit Freunden auf einen Drink. Wahrscheinlich komme ich erst spät nach Hause, also ruf nicht zurück. Am Wochenende melde ich mich noch mal. Bald sehen wir uns. Bye …« Dann wurde hastig hinzugefügt: »Oh – ich liebe dich.« Es klickte, und der Apparat gab die Zeit an. In New York war es vier Uhr gewesen, als Alyssa angerufen hatte. Vor zweieinhalb Stunden. Schade, dass wir uns verpasst haben, dachte Mary Stuart. In drei Wochen würde sie nach Paris fliegen und ihre Tochter treffen, und darauf freute sie sich sehr. Sie wollten in Südfrankreich und Italien Urlaub machen, wofür Mary Stuart zwei Wochen eingeplant hatte. Aber Alyssa wollte möglichst lange in Europa bleiben und erst ein paar Tage vor Studienbeginn in die Staaten zurückkehren. Sie hatte bereits angekündigt, dass sie nach dem Abschluss ihres Studiums in Paris leben würde, doch daran mochte Mary Stuart noch nicht einmal denken. In diesem Jahr hatte sie sich ohne ihre Tochter sehr einsam gefühlt.
»Mary Stuart …« Die Stimme ihres Mannes erklang. »Heute Abend komme ich nicht zum Essen nach Hause. Bis sieben habe ich eine Besprechung, und soeben habe ich festgestellt, dass ich danach mit einem Klienten zum Dinner verabredet bin. Bis zehn oder elf wird's sicher dauern. Tut mir Leid.« Ein Klicken. Kein persönliches Wort. Wahrscheinlich hatte während des Anrufs bereits ein Klient gewartet. Außerdem hasste Bill den Anrufbeantworter und behauptete, er sei unfähig, was Privates auf Band zu sprechen. Deshalb neckte sie ihn manchmal. Früher hatte sie ihn öfter geneckt, jetzt nicht mehr. Für beide war es ein schwieriges Jahr gewesen. So vieles hatte sich verändert – so viele verwirrende Enthüllungen und Enttäuschungen, so viel Kummer. Nach außen hin wirkte alles normal. Wie war das möglich? Wie konnte man mit gebrochenem Herzen weiterleben, morgens Kaffee kochen, Betten machen, Zeitungen kaufen, an Besprechungen teilnehmen. Man stand auf, duschte, zog sich an, ging abends schlafen. Aber ein Teil der Seele war gestorben. In früheren Jahren hatte sie sich gefragt, wie die Leute so etwas überstanden, und bei diesem Gedanken eine morbide Faszination empfunden. Jetzt wusste sie es. Man lebte einfach weiter, das Herz schlug immer noch und ließ einen nicht sterben, man ging herum, redete und atmete. Und im Innern tat alles weh.
»Hi«, lautete die nächste Nachricht. »Tony Jones. Ihr Videorecorder ist repariert, und Sie können ihn jederzeit abholen. Danke, bye.« Zwei Informationen über verschobene Aufsichtsratssitzungen. Eine Frage nach dem Museumsball und dem dafür zuständigen Komitee, ein Anruf vom Leiter der Organisation von Freiwilligen, die ein Obdachlosenheim in Harlem betreute. Sie machte sich ein paar Notizen. Dann fiel ihr der Backofen ein, den sie ausschalten musste. Wie so oft in den letzten Monaten würde Bill nicht nach Hause kommen. Er arbeitete zu viel, das war seine Überlebensstrategie. Und sie verfolgte mit ihren endlosen Terminen denselben Zweck.
Sie schaltete den Herd aus und beschloss, Spiegeleier zu braten. Irgendwann später. Jetzt ging sie erst einmal ins Schlafzimmer mit der butterblumengelben Tapete, den weiß lackierten Fußleisten und dem antiken Petit-Point-Teppich, den sie in England gekauft hatte. An den Wänden hingen Aquarelle, silbern gerahmte Fotos von den Kindern schmückten das Sims des schönen Marmorkamins, und davor standen bequeme Polstersessel. Abends oder an den Wochenenden saßen Mary Stuart und Bill gern am Feuer und lasen, denn mittlerweile verbrachten sie die meisten Wochenenden in der City. Letzten Sommer hatten sie das Haus in Connecticut verkauft, da sie nie mehr dorthin gefahren waren, seit die Kinder nicht mehr da waren und Bill ständig auf Geschäftsreisen weilte.
»In diesen Tagen scheint mein Leben zu schrumpfen«, hatte Mary Stuart scherzhaft zu einer Freundin gesagt. »Die Kinder sind nicht mehr da, Bill ist dauernd unterwegs. Allmählich finde ich das Apartment zu groß für uns beide.« Aber sie würde es niemals verkaufen, denn hier waren die Kinder aufgewachsen.
Als sie ihre Handtasche beiseite legte,
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