Die Ranch
schaute sie unwillkürlich zum Kamin hinüber. Es war immer noch tröstlich, die Fotos der Kinder zu betrachten, mit vier und fünf Jahren, mit zehn und fünfzehn, mit dem Hund, den sie besessen hatten, ein gutmütiger, großer, schokoladenbrauner Labrador namens Mousse. Wie so oft starrte sie die Bilder an. Es beruhigte sie, einfach dazustehen, sich zu erinnern, in die Vergangenheit zurückzukehren, wo es nur kleine Probleme gegeben hatte. Könnte sie doch die Zeit zurückdrehen … Todds fröhliches kleines Gesicht blickte ihr entgegen, von blondem Haar umrahmt, und sie glaubte seine Stimme zu hören, die nach ihr rief. Oder sie sah ihn hinter seinem Hund herlaufen – oder in den Swimmingpool fallen, mit drei Jahren. Sofort war sie hinterher gesprungen, vollständig angezogen. Damals hatte sie ihn gerettet. Immer war sie für Todd und Alyssa da gewesen. Auf dem Sims stand auch ein Foto, das sie alle drei zeigte, an Weihnachten vor drei Jahren, die Arme umeinander gelegt, lachend und übermütig, während der entnervte Fotograf verlangt hatte, sie sollten endlich mal stillstehen.
Dann hatte Todd vulgäre Lieder gesungen, und Alyssa war in hysterisches Gelächter ausgebrochen. Sogar Mary Stuart und Bill mussten lachen. Sie hatte es genossen, mit den Kindern herumzualbern. Die Erinnerung an Alyssas Stimme auf dem Anrufbeantworter weckte eine noch schmerzhaftere Sehnsucht. Als sie sich vom Kamin abwandte, wurde sie von den kleinen Gesichtern liebkost und gequält, sie zerrten an ihrem Herzen und spendeten ihr Trost. In ihrer Kehle saß ein dicker Kloß. Sie ging ins Bad, wusch ihr Gesicht und schaute vorwurfsvoll in den Spiegel. »Hör auf damit!« Energisch nickte sie. Selbstmitleid durfte sie sich nicht länger leisten. Sie musste an die Zukunft denken – und ein unbekanntes Land betreten, dessen Landschaft ihr missfiel. Hin und wieder hatte sie den Eindruck, sie wäre allein hierher gekommen, obwohl sie wusste, dass auch Bill irgendwo in dieser Wüste lebte, in seiner eigenen Hölle. Über ein Jahr lang hatte sie ihn gesucht und nicht gefunden.
Sollte sie ihr Abendessen zubereiten? Nein, sie war nicht hungrig. Sie zog ihr Kostüm aus, schlüpfte in Jeans und ein rosa T-Shirt, dann setzte sie sich an den Schreibtisch und sah ein paar Papiere durch. Inzwischen war es sieben Uhr und draußen immer noch hell. Sie beschloss, Bill anzurufen und ihm mitzuteilen, sie habe seine Nachricht erhalten. In letzter Zeit hatten sie einander wenig zu sagen. Meist ging es nur um seine Arbeit und ihre Termine. Trotzdem wählte sie seine Nummer. Das fand sie besser, als zu resignieren. Obwohl sie sich fremd geworden waren, war sie nicht bereit, alles aufzugeben. So etwas passte nicht zu ihr. Nach all den Ehejahren waren sie einander etwas mehr schuldig. Man durfte das sinkende Schiff nicht verlassen, und wenn es keine andere Möglichkeit gab, musste man mit untergehen.
Die Sekretärin meldete sich. Nein, Mr. Walker sei jetzt nicht zu sprechen, die Unterredung mit dem Klienten noch nicht beendet. Sie würde ihn über Mrs. Walkers Anruf informieren.
»Danke.« Langsam schwang Mary Stuart ihren Drehsessel herum und schaute wieder zum Park hinab. Wenn sie es zuließ, würde sie junge Paare durch die milde abendliche Juniluft wandern sehen. Doch das wollte sie nicht. Es gab nichts, was sie mit ihnen teilen oder von ihnen lernen konnte. Und ihr Anblick würde sie nur bedrücken, an andere Zeiten mit Bill erinnern. Vielleicht würde es eines Tages wieder so sein wie früher.
Vielleicht
… An dieses Wort klammerte sie sich und verdrängte in Gedanken die Vorstellung, es könnte anders kommen. Unvorstellbar … Sie konzentrierte sich wieder auf ihre Papiere. Während die Sonne unterging, arbeitete Mary Stuart eine Stunde lang, stellte das Programm für Komiteesitzungen zusammen und notierte Vorschläge, die sie einer Wohlfahrtsorganisation unterbreiten wollte. Als sie aus dem Fenster schaute, war es fast dunkel geworden, und eine samtige Nacht schien sie einzuhüllen. In der leeren Stille des Apartments empfand sie das Bedürfnis, einen Namen zu rufen, ihre Hand nach irgendjemandem auszustrecken. Aber da war niemand. Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Sessellehne. Und dann – als hätte die Vorsehung den Wunsch erraten – läutete das Telefon.
»Hallo?« Ihre Stimme klang überrascht und sehr jung. Aus ihren Gedanken gerissen, das Haar ein wenig zerzaust, fühlte sie sich wie ein verwirrtes Kind.
»Mary Stuart?« Die
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