Die Ranch
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In jedem anderen Supermarkt hätte die Frau, die ihren Einkaufswagen durch einen Gang zwischen Konserven und Delikatessen schob, deplatziert gewirkt. Gepflegtes Haar fiel auf ihre Schultern; sie hatte einen makellosen Teint, braune Augen, eine schlanke Figur, perfekt lackierte Nägel, und ihr marineblaues Leinenkostüm schien aus Paris zu stammen. Dazu trug sie Pumps und eine Chanel-Tasche in derselben Farbe. Alles an ihr wirkte vollkommen. Natürlich hätte sie den Eindruck erwecken können, sie wäre nie zuvor in einem Supermarkt gewesen. Aber sie fand sich in diesem Laden erstaunlich gut zurecht. Auf ihrem Heimweg besuchte sie das Gristede's an der Ecke Madison Avenue und Seventy-seventh Street sogar sehr oft. Meistens erledigte zwar ihre Haushälterin die Einkäufe, aber Mary Stuart fand ein sonderbares, altmodisches Vergnügen daran. Sie kochte gern für Bill, wenn er abends nach Hause kam. Und sie hatten nie eine Köchin eingestellt, nicht einmal, als die Kinder noch jünger gewesen waren. Trotz ihrer eleganten äußeren Erscheinung genoss sie es, für die Familie zu sorgen und sich um jede Kleinigkeit zu kümmern.
Ihr Apartment an der Ecke Seventy-eigth Street und Fifth Avenue bot einen großartigen Ausblick auf den Central Park. Hier hatte sie mit Bill die letzten fünfzehn Jahre ihrer fast zweiundzwanzigjährigen Ehe verbracht. Mary Stuart führte einen untadeligen Haushalt. Manchmal wurde sie von den Kindern geneckt, weil immer alles so »perfekt« war und makellos aussehen musste. Bei ihrem Anblick ahnte man, dass sie geradezu zwanghaft nach Vollkommenheit strebte. Um sechs Uhr an einem heißen New Yorker Juniabend, nach sechsstündigen Besprechungen, glänzte frischer Lippenstift auf Mary Stuarts Mund, und die kunstvolle Frisur saß noch genauso gut wie am Morgen.
Sie suchte zwei kleine Steaks aus, Kartoffeln, frischen Spargel, Obst und Joghurts. Nur zu gut erinnerte sie sich an die Tage, wo sie ihren Einkaufswagen mit Überraschungen für die Kinder gefüllt hatte. Sie gab vor, dieses Zeug zu verachten, konnte aber nicht widerstehen und kaufte alles, was die Kinder in der Fernsehwerbung sahen und unbedingt haben wollten. So schlimm fand sie es nicht, ihre Lieblinge ein bisschen zu verwöhnen. Warum sollte sie ihnen das Müsli mit Kaugummigeschmack missgönnen und sie zwingen, ein gesundes zu essen, das sie hassten?
Wie die meisten Leute in ihren New Yorker gesellschaftlichen Kreisen erwarteten Mary Stuart und Bill sehr viel von ihren Kindern – hervorragende Schulnoten, eindrucksvolle sportliche Leistungen, ein ausgeprägtes moralisches Empfinden. Und tatsächlich, Alyssa und Todd sahen gut aus, waren klug, in der Schule brillant und grundanständig. Schon in ihrer frühen Kindheit hatte Bill scherzhaft verkündet, er wünsche sich so perfekte Sprösslinge, wie die Mutter war, und würde fest mit ihnen rechnen. Als Alyssa und Tom zehn und zwölf waren, stöhnten sie, wann immer sie das hörten. Aber sie wussten, dass der Vater seine Forderung ernst meinte. In der Schule und außerhalb mussten sie stets ihr Bestes geben und ihre Fähigkeiten voll ausschöpfen. Selbst wenn sie nicht immer grandiose Erfolge erzielten, sollten sie sich wenigstens anstrengen. Bill Walker verlangte sehr viel, denn er war es gewöhnt, hohe Ansprüche zu stellen, die erfüllt wurden. So streng Mary Stuart auch manchmal wirkte, im Grunde war Bill der wahre Perfektionist, der nicht nur seine Kinder, sondern auch seine Frau unter Druck setzte.
Seit fast zweiundzwanzig Jahren sorgte Mary Stuart, die perfekte Ehefrau, für ein perfektes Heim, perfekte Kinder, war attraktiv und eine perfekte Gastgeberin. Ihr Zuhause, im
Architectural Digest
gerühmt, wurde oft und gern von Besuchern frequentiert. Wenn die Familie auch keinen aufwändigen Lebensstil pflegte, hatte alles seine Ordnung. Was immer Mary Stuart in die Hand nahm, schien ihr mühelos zu gelingen. Aber manche Leute erkannten, dass es nicht so einfach sein konnte, wie es aussah. Dies war ihr Geschenk für Bill – den Eindruck zu erwecken, nichts würde ihr schwer fallen. Jahrelang hatte sie Wohltätigkeitsgalas arrangiert und viele hunderttausend Dollar für renommierte Organisationen zusammengesammelt, im Aufsichtsrat einiger Museen gesessen und sich unermüdlich um misshandelte oder unterprivilegierte Kinder bemüht. Jetzt, mit vierundvierzig, organisierte Mary immer noch Wohltätigkeitsveranstaltungen, gehörte mehreren Komitees an und kümmerte sich um kranke oder
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