Die Rattenhexe
gab sie nicht, aber er schickte den schmalen Strahl über die Oberfläche hinweg, und auf ihr entdeckte auch ich den langen, dunkleren Gegenstand, der von der Strömung gepackt worden war und in unsere Richtung trieb. Das war kein Baumstamm, das war kein Stück Holz, das war ein Mensch, denn die Strömung war so wild, daß sie den Körper hin und wieder drehte.
Immer wenn er in die Rückenlage geriet, schimmerte sein bleiches Gesicht auf.
Suko sprang zuerst ins Wasser. Er fluchte dabei und stellte sich breitbeinig hin. Ich folgte seinem Beispiel, den Fluch verschluckte ich allerdings und kämpfte mich durch das Wasser vor.
Das Zeug umschäumte unsere Knie. Die Leiche kam immer näher. Ich hatte schon eine Ahnung. Wir standen ihr als Hindernis im Weg und griffen zugleich zu.
Gemeinsam hievten wir den Körper ein Stück aus dem Wasser. Seine Verletzungen waren schlimm, die Ratten hatten überall zugebissen, aber trotzdem wußten wir, wen wir hielten.
»Slatko«, sagte ich. »Verdammt noch mal, ich habe es mir schon gedacht. Wer sonst?«
Suko nickte hoch. Er hatte seine Hand um den Nacken der Leiche gelegt. »Wenn du ihn dir anschaust, wissen wir, was uns bevorsteht.«
»Sicher.«
Er ließ den Toten nicht los. Ich half ihm dabei, ihn auf den rechten Sims neben dem großen Kanal zu legen. »Sollen wir nicht doch zurückgehen und Verstärkung holen?«
»Dann verschwindet die Rattenhexe.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das ziehen wir durch.«
»Ich bin dabei.«
Die Leiche war aus dem rechten Kanal angeschwemmt worden. Ihn mußten wir durchwandern, um irgendwann das Versteck der Rattenhexe zu erreichen. Es war nicht einfach. Die Strömung rüttelte an uns.
Gegenstände schwemmten auf uns zu. Wir wichen ihnen nicht mal aus, sondern beobachteten die Wände zu beiden Seiten. Für uns kamen sie zwar nicht direkt als Versteck in Frage, aber ich wußte, daß es in dieser Unterwelt auch Nischen gab. Fluchtecken oder Ausstiege, die von den Nischen her in die Oberwelt führten.
Suko leuchtete über das Wasser. »Ratten, John! Ratten im Wasser. Und nicht gerade wenige.«
Ich kriegte eine dicke Kehle. Mein Freund war stehengeblieben. Auch ich ging nicht mehr weiter. Die Brühe umströmte meine Beine und zerrte an der Kleidung. Ich strich über die Wasserfläche hinweg, wie es auch Suko tat. Die nassen Körper waren nicht zu übersehen. Auch ihre Schnauzen nicht, die sich hin und wieder hervorschoben.
Suko schaute nachdenklich auf sein Stuhlbein. Dann hob er die Schultern. »Es wird uns nicht viel helfen, fürchte ich.«
»Wir gehen trotzdem weiter.« Ich war relativ optimistisch. Aus irgendeinem Grund vertraute ich Senta de Fries. Unser zeitlich begrenztes Verhältnis war so schlecht nicht gewesen, und ich hatte ihr außerdem auch nichts getan. Deshalb ging ich weiter. Auch Suko startete wieder, blieb aber diesmal etwas hinter mir.
Dann hörten wir das Lachen. Es brandete durch den Kanal, über das gurgelnde Wasser hinweg. Trotz der Echos wußten wir, daß Senta vor uns stand und lachte.
Sie wußte Bescheid. Jetzt hätte es sowieso keinen Sinn mehr für einen Rückzieher gehabt.
Das Lachen verstummte. Statt dessen rief sie mich an. »Komm ruhig her, John. Ich freue mich auf unser Treffen und möchte dich in meiner Welt begrüßen.«
»Ist okay, Senta. Aber was ist mit den Ratten?«
»Wie meinst du das?« rief sie zurück.
»Sie sind zwar deine Freunde, aber nicht unbedingt meine. Das sehe ich doch richtig?«
»Stimmt. Sie waren auch nicht die Freunde von Slatko.«
»Das haben wir erlebt. Und auch nicht die von Jake Holland.«
Sie freute sich und lachte wieder, bevor sie sagte: »Er hat es nicht anders verdient gehabt. Aber kommt her. Ich habe euch schon erwartet und auch gesehen. Nur – wen hast du mitgebracht?«
»Einen Freund.«
»Klar, das muß ein wirklicher Freund sein, wenn er dich in die Hölle begleitet.«
»Er ist in Ordnung.«
»Das werde ich selbst feststellen. Ihr braucht nicht mehr weit zu gehen. Kommt ruhig ran. Ich sitze in der Nische auf der rechten Seite. Hier ist der Platz für die Königin.«
Suko und ich schauten uns an. Senta fühlte sich als Königin. Sie war überspannt, sie war nicht mehr ganz klar im Kopf. So wie sie sprach, ließ das schon auf eine Krankheit schließen.
Wir kamen ihrem Wunsch nach und kämpften uns weiter durch die gurgelnde Brühe nach vorn. Es war kein leichtes, sondern ein verbissenes Gehen, denn der Boden war mit zähem, widerlichen Schlamm bedeckt. Bei
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