Die Rebellin
es mit bloßem Auge erkennen konnte, und doch gab es keinen Zweifel: Irgendetwas im Innern der Kapsel drängte danach, sich aus der Umklammerung zu befreien. Ein Blütenblatt sprang auf, ein zweites, ein drittes, und das reinste, makelloseste Weiß, das Emily je gesehen hatte, quoll hinaus in die Dunkelheit. Vor Ehrfurcht schweigend, Hand in Hand mit ihrem Vater, schaute sie zu, wie sich das Wunder vollzog, die Knospe sich nach und nachöffnete, mal zögernd und tastend, mal rascher, wie von einer inneren Ungeduld beseelt, um sich schließlich in einen Kranz Hunderter Blütenblätter zu ergießen, der sich wie eine strahlend helle Krone vom schwarzen Grund des Teichs abhob.
»Jetzt hast du es selbst gesehen«, flüsterte ihr Vater. »Wenn das Starke das Schwache besiegt, wie das Leben in der Pflanze die Knospe, entsteht Großes und Schönes.«
Emily erwiderte den Druck seiner Hand, so stolz und glücklich wie noch nie in ihrem Leben: Ja, ihr Vater war ein Zauberer, und sie war sein Zauberlehrling. Und während sie da standen, versunken in ihr gemeinsames Schweigen, erhellte draußen, jenseits der gläsernen Wände, ein rosa Schimmer den Himmel, um den neuen Tag anzukündigen.
»Leben!«, krächzte Cora in der Kuppel des Gewächshauses. »Leben! Leben!«
2
Über Chatsworth, dem Jahrhunderte alten Landsitz der Herzöge von Devonshire, wehte die Flagge der englischen Könige, und während aus den Schornsteinen des Küchentrakts weiße Rauchfahnen in den blauen Herbsthimmel aufstiegen, herrschte in den Gängen und Fluren des Schlosses angespannte Betriebsamkeit. Die ganze Dienerschaft war auf den Beinen. In den Küchen wurde auf allen Herden gleichzeitig gekocht, die ältesten und kostbarsten Weine wanderten aus dem Keller hinauf in den prachtvoll geschmückten Festsaal, wo die Tafel für über hundert Gäste mit goldenen Tellern eingedeckt wurde. Denn Queen Victoria, die in diesem Jahr erst den Thron bestiegen hatte, war zu Besuch, zusammen mit Feldmarschall Wellington, dem Bezwinger Napoleons! Mit ihrem halben Hofstaat war sie nach Chatsworthgekommen, um im Gewächshaus des Herzogs die Seerose blühen zu sehen, die ihren königlichen Namen trug.
Vorsichtig spähend, ob draußen Gefahr lauerte, schlich Victor sich aus dem kleinen Cottage am Waldrand, das er zusammen mit seiner Mutter bewohnte. Man hatte allen Kindern im Dorf strengstens verboten, sich an diesem Tag in ihren Lumpen in der Nähe des Schlosses blicken zu lassen. Das war keine leere Warnung: In der Auffahrt waren Wachen aufgestellt, der Förster des Herzogs und ein halbes Dutzend Jäger, dazu Bauern mit aufgepflanzten Knüppeln und Mistgabeln, wie letzten Winter in der Hungersnot, als Captain Swing, der Brandstifter, überall in der Grafschaft die Scheunen und Schober angezündet hatte. Zwischen den Büschen und Bäumen rings um das Hauptgebäude krabbelten Lakaien herum, die in ihren goldbetressten Livreen aus der Ferne wie verkleidete Mistkäfer wirkten, offenbar auf der Suche nach irgendwelchen Störenfrieden, die sich trotz des Verbots hierher wagten, um die Königin zu sehen. Wirkliche Angst aber hatte Victor nur vor Mrs. Paxton, Emilys Mutter. Sie hasste ihn wie die Pest. Wenn die ihn erwischte, musste er sich auf was gefasst machen. Aber sollte Emily darum später behaupten, er sei feige?
Also warf er sich den Jutesack über die Schulter, dessen Inhalt er unter großen Gefahren gesammelt hatte, und machte sich auf den Weg zu dem neuen Treibhaus, das sich am anderen Ende des Parks befand. Dort wollte er Emily überraschen. Emily und die Königin.
Bereits der Weg dorthin führte durch verbotenes Gebiet, vorbei an dunklen Seen, über die einsame Trauerweiden kraftlos ihre Äste sinken ließen, als wären sie schon tot, und durch enge, verwunschene Felsschluchten hindurch, wo es sogar im Sommer nach feuchtem Moos roch und man immer das Gefühl hatte, es könnte einem plötzlich eine Fee oder ein Ritter begegnen. Diesen Teil des Parks, den Mr. Paxton, der Gartenbaumeister des Herzogs und Vater seiner Freundin, angelegt hatte, nannten Victorund Emily das »Paradies«. Hier trafen sie sich heimlich, um Kaulquappen zu fangen, Frösche aufzublasen oder sich einander darin zu messen, wer von ihnen beiden am weitesten den Daumen am Unterarm zurückbiegen konnte. Meistens aber saßen sie einfach nur in der Baumhütte, die sie zusammen in der Krone einer Buche errichtet hatten, und schauten den Garten an. Der Garten war so schön, dass Besucher aus
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