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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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noch ein Tier – nicht einmal die Hündin des Gutsverwalters, die der Pfarrer totgetrampelt hatte, damit die Dorfkinder nicht sahen, wie sie ihre Jungen zur Welt brachte, hatte inmitten ihrer blutigen, quietschenden Welpen so laut geschrien wie Victor, und während Tränen ihre Wangen hinabliefen, sah Emily noch einmal sein Gesicht, wie er sich verzweifelt nach ihr umgedreht hatte, und der Ausdruck darin war entsetzlicher gewesen als die schlimmste Fratze, die sie jetzt vor dem Spiegel zog.
    Plötzlich hörte sie Schritte auf dem Flur. Eilig huschte sie zum Bett und warf sich in das dunkle Matratzengebirge, in der verzweifelten Hoffnung, für immer darin zu verschwinden.
    Die Tür ging auf, und ihre Mutter stand im Raum.
    »Hast du gewusst, was Victor vorhatte?«, fragte sie, mit vor Zorn bebender Stimme. »Er hat nicht nur die Königin zu Tode erschreckt, sondern auch Dutzende Rosenbeete verwüstet. Hast du eine Ahnung, was das kostet? Antworte, wenn ich mit dir spreche!« Sie rüttelte Emily so heftig an der Schulter, dass es schmerzte. »Sag, bist du seine Komplizin?«
    Emily schüttelte stumm den Kopf. Sie hatte nicht den Mut, ihrer Mutter die Wahrheit zu sagen. Zu groß und bedrohlich war die dunkle Gestalt, die sich über ihr Bett beugte.
    »Ich habe mit deinem Vater gesprochen. Bis Ostern darfst du weder den Park noch ein Gewächshaus betreten. Und beten musst du von heute an allein.«
    Ohne Gutenachtkuss wandte ihre Mutter sich ab.
    Draußen leuchtete eine Rakete auf, und all die toten und lebenden Wesen, die Emilys Zimmer bevölkerten, traten aus ihren Schatten hervor: der schwarze, ledrige Schrumpfkopf aus Afrika zwischen zwei über Kreuz hängenden Pfeilen, die aufgespießten Schmetterlinge mit ihren reglosen Flügeln, der ausgestopfte Luchs und die Eule, die Blindschleichen in den Spirituskolben, die sich in der trüben Flüssigkeit immer noch zu winden schienen, und Pythia, Emilys uralte Schildkröte, die mit ihrem Salatblatt im Maul aussah, als wäre sie in ihrem Terrarium für alle Zeit erstarrt. Emily blickte sie hilfesuchend an. Die Schildkröte hatte ihr schon oft geholfen, wenn sie nicht mehr weiter wusste. Wenn sie sich jetzt bewegen würde, bevor sie selbst bis drei gezählt hatte, dann …
    Die Schildkröte lugte unter ihrem Panzer hervor, und das Salatblatt fiel aus ihrem Maul.
    »Mama!«, rief Emily.
    Ihre Mutter, die bereits die Tür geöffnet hatte, blieb stehen und drehte sich um. »Ja, was ist? Möchtest du dich entschuldigen?« Emily schüttelte den Kopf.
    »Nun – wie du willst.«
    Obwohl ihre Zähne vor Angst aufeinander schlugen, fasste Emily sich ein Herz. »Was tut ihr mit Victor?«, fragte sie.
    »Mit Victor?«, erwiderte ihre Mutter. »Dein Vater und ich haben ihn fortgeschickt. Böse Menschen wie er haben hier keinen Platz. Er wird noch diese Nacht Chatsworth verlassen.«
    »Aber warum?«, protestierte Emily. »Er hat doch nichts Böses getan! Er ist mein Freund!«
    »Nein, das ist er nicht, mein Kind. Victor ist böse, ein Verbrecher, von Geburt an. Du wirst ihn nie mehr wiedersehen.«

ERSTES BUCH
Die zweite Schöpfung
1849

1
     
    Wer London je mit eigenen Augen erblickte, war überwältigt von der unermesslichen Größe der Stadt, die auch dem kaltblütigsten Besucher Ehrfurcht und Bewunderung einflößte. Denn anders als Rom oder Paris war London nicht Hauptstadt eines einzelnen Landes, sondern Hauptstadt der ganzen Welt. Auf einhundertundzwanzig Quadratkilometern ballte sich hier der Erdkreis zusammen, hier lebten an einem einzigen Ort mehr als drei Millionen Menschen, Abkömmlinge aller Völker und Rassen, vereint in pausenloser, unermüdlicher Tätigkeit: ruheloser Schmelztiegel der Menschheit, machtvolle Kapitale des Britischen Empires, ewig summender Umschlagplatz des Welten umspannenden Kolonialreiches – ein einziger gigantischer Basar, wo die Wunder der Zivilisation und des Fortschritts zu bestaunen waren, die das riesige Menschenmahlwerk London fortwährend produzierte.
    Wie eine Festung von Recht und Ordnung erhob sich inmitten dieses Getriebes das Coldbath-Fields-Gefängnis, die Korrektionsanstalt der Grafschaft Middlesex. 1794 im Norden der Stadt, unweit von Phoenix Place, auf einem ehemaligen Gräberfeld erbaut, war es von einer mächtigen Backsteinmauer umgeben, die das neun Hektar große Areal vor fremden Blicken abschirmte. Nur eine Glocke, die alle Viertelstunde schrill ertönte, sowie zwei riesige Mühlenflügel, die wie zur immer wiederkehrenden

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