Die Rebellin
dem ganzen Land nach Chatsworth kamen und Eintritt zahlten, um ihn zu sehen. Für Victor war das kein Wunder, denn Mr. Paxton hatte nicht nur Bäume aus fernen Ländern angepflanzt, die es sonst nirgendwo in England gab, er hatte auch ganze Hügel und Berge versetzt, haushohe Felsbrocken aufeinander getürmt und Wasserfälle angelegt, die sich aus schwindelnder Höhe in die Tiefe stürzten. Wenn Victor sich Gottvater vorstellte, sah er immer das Gesicht von Mr. Paxton vor sich.
Über den Ast einer Ulme kletterte er auf das Dach des Gewächshauses. Auf dem Bauch kroch er dort weiter, langsam und vorsichtig, wie auf einem gerade erst zugefrorenen See. Über dem Wipfel einer Palme, die bis unter das gläserne Dach ragte, hielt er inne. Nur wenige Fuß unter ihm war die königliche Gesellschaft versammelt, zusammen mit dem Herzog und Mr. Paxton. Sie traten gerade an den großen Teich, auf dem die Seerose schwamm.
Als Victor die Königin sah, musste er staunen. Diese kleine runde Frau, die mit ihrer weiß gestärkten Haube und dem bodenlangen Schürzenkleid aussah wie eine junge Wirtschafterin aus dem Schloss, sollte das englische Weltreich regieren? Mit Augen wie ein Kalb schaute sie zu Emilys Vater auf, der mit dem Rücken zu Victor stand und gerade einem uralten, stocksteifen Greis, der offenbar schwerhörig war und sich immer die Hand ans Ohr hielt, irgendwas erklärte. Das musste der Herzog von Wellington sein, der berühmte Feldmarschall. Aber wo war Emily?
Victor schob sich noch ein bisschen weiter vor, doch er konnteseine Freundin nirgends sehen. Hatte sie ihn etwa angelogen, als sie behauptete, sie würde heute der Königin die Seerose zeigen? Oder hatte sie ihrer Mutter verraten, dass er eine Überraschung für sie plante – und musste nun zu Hause bleiben?
Victor schaute zu Mr. Paxton hinüber. Immer, wenn Emilys Vater sich beim Sprechen umdrehte, um auf etwas zu zeigen, sah Victor das Gesicht mit den mächtigen Backenkoteletten und den schwarzen buschigen Augenbrauen. Diesen Mann fürchtete er wie keinen zweiten, und wie keinen zweiten bewunderte er ihn. Der Kutscher des Herzogs hatte ihm erzählt, dass Emilys Vater früher genauso arm gewesen war wie Victor – und was für ein großer Mann war aus ihm geworden! Er war der wichtigste Angestellte des Herzogs, ja sogar dessen Freund. Jeder im Dorf wusste, dass die beiden Männer zusammen durch die halbe Welt gereist waren, nach Rom, nach Athen, nach Konstantinopel, und der Herzog keine Entscheidung traf, ohne sich zuvor mit Mr. Paxton zu beraten. Wenn Victor einen Wunsch im Leben hatte, dann den, eines Tages so zu werden wie Emilys Vater.
Jetzt wandte Mr. Paxton sich zur Tür und winkte jemanden zu sich. Victor hielt den Atem an. Tatsächlich, keine Sekunde später sah er seine Freundin. An der Hand ihrer Mutter betrat sie das Treibhaus, in einem schneeweißen Kleid. Mit erhobenem Kopf, auf dem ihr dunkles Haar zu einem spitzen Turm in die Höhe geflochten war, ging sie auf die Königin zu. Keine zwei Schritt von ihr entfernt blieb sie stehen, dann verneigte sie sich mit einem so tiefen Knicks, dass sie bis auf den Boden sank. Victor vergaß beinahe zu atmen, während er sich an der Glasscheibe die Nase platt drückte. Wie schön Emily in ihrem weißen Kleid aussah, wie eine richtige Prinzessin – viel, viel schöner als die Königin. Er liebte sie, seit er mit ihr der Hündin des Gutsverwalters beim Jungekriegen zugesehen hatte. Sie war das einzige Mädchen im Dorf, das nicht davongelaufen war, als sich Nellys Bauch öffnete und jede Menge Blut und Gedärm und lauter eklige Sachen daraus hervorquollen – ja, sie hatte sogar gefragt, ob es beiMenschen genauso wäre, wenn sie Kinder bekommen. Eigentlich, dachte Victor, müsste die Königin sich vor Emily verneigen, und nicht umgekehrt … Er war so sehr in den Anblick vertieft, dass er fast darüber vergaß, warum er eigentlich hier war.
Mrs. Paxton riss ihn aus seinem Traum. Als hätte sie ihn gerochen, schaute sie plötzlich in die Höhe. Doch zum Glück wurde sie von Emily abgelenkt, die in diesem Augenblick auf einen Wink ihres Vaters ihre Hand los ließ und auf das Seerosenbecken zuging.
Victor zuckte zusammen. Jetzt war es so weit!
Auf einmal pochte ihm das Herz bis zum Hals, und der Sack auf seiner Schulter kam ihm so schwer vor, als wären lauter Steine darin. Sollte er es wirklich wagen? Sein Mund war vor Aufregung ganz trocken, und am liebsten wäre er auf der Stelle wieder vom Dach
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