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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Erinnerung an die langsam, aber sicher mahlenden Mühlen Gottes über der Gefängnismauer in den Himmel aufstiegen, zeugten von der Existenz der eintausenddreihundertachtundachtzig Häftlinge, die hier zur Strafe ihrer Verbrechen und zur Besserung ihres Charakters in Verwahrung gehalten wurden.
    »Victor Springfield!«
    »Hier, Sir! Jawohl, Sir!«
    »Raustreten!«
    Ein Schlüssel wurde herumgedreht, ein Riegel zurückgeschoben, und lautlos öffnete sich die schwere Eisentür in den geölten Angeln. Victor schloss kurz die Augen, dann erhob er sich von der Pritsche, setzte sich die Anstaltskappe auf und trat aus der Zelle, um sich zum letzten Mal in den stummen Zug der Häftlinge einzureihen, den Oberaufseher Walker den Gang entlangführte. Während die Männer, die Augen vorschriftsmäßig zu Boden gesenkt, in ihren grauen Uniformen den Zellenflur entlangtrotteten, dröhnten ihre genagelten Stiefel auf dem Stahlboden der Galerie, als wollten sie mit jedem Schritt das Schweigen betonen, das an diesem Ort Tag und Nacht unter den Gefangenen herrschte. Denn jede Form des Kontakts, sei es durch Worte, Gesten oder Blicke, war ihnen strengstens untersagt, auch an diesem Tag, an dem Victor, zusammen mit siebzehn anderen Häftlingen, aus der Korrektionsanstalt entlassen wurde.
    Wieder schrillte die Glocke. Es war halb neun Uhr in der Frühe, und in der Tretmühle, dem meistgehassten Ort der ganzen Anstalt, fand gerade der viertelstündliche Schichtwechsel statt, als Walkers Abteilung den Innenhof durchquerte. Die Männer, die während der abgelaufenen Schicht Pause gemacht hatten, erhoben sich von den Ruhebänken, um ihre erschöpften Leidensgenossen abzulösen, mit resignierten, hoffnungslosen Gesichtern. Jeder Häftling, der zu Schwerarbeit verurteilt war, musste täglich fünfzehn Viertelstunden in dieser mechanischen Folterkammer verbringen, die in sechsundneunzig nummerierte, kaum schulterbreite Einzelkammern unterteilt war, eine für jeden Sträfling und jede von der anderen durch hohe Holzwände getrennt, sodass der ganze Apparat, sobald die Männer einer Schicht darin Aufstellung genommen hatten, wie ein gigantisches Pissoir aussah. Die Hände auf einer Haltestange aufgestützt, bewegten sie ihre Beine, als würden sie eine Treppehinaufsteigen, doch statt durch diese Tätigkeit an Höhe zu gewinnen, ließen sie nur die Stufen des Tretrades hinter sich, ohne sich selbst von der Stelle zu rühren. Schon nach wenigen Minuten quollen ihnen vor Anstrengung die Augen aus den Höhlen, und der Schweiß tropfte ihnen von der Stirn, denn die Last, die sie mit der Kraft ihrer Beine voranbewegten, entsprach ihrem eigenen Körpergewicht, und die Luft in den engen Kammern wurde von der Erhitzung ihrer Leiber in kürzester Zeit so unerträglich heiß, dass sie ihre Beine nur langsam und schleppend hoben wie Pferde vor der Pflugschar in einem tief gefurchten Acker. Doch kein Laut drang über ihre Lippen, all ihre Mühsahl und Qual vollzog sich in jenem unwirklichen Schweigen, das wie das Schweigen Gottes jeden Winkel der Anstalt erfüllte. Denn wer gegen das Sprechverbot verstieß, das die wechselseitige Ansteckung der Gefangenen durch das Gift des zum Bösen verführenden Wortes unterbinden sollte, wurde unausweichlich bestraft, mit Nahrungsentzug, Dunkelarrest und in schweren Fällen auch mit der Peitsche.
    »Abteilung rechts schwenkt marsch!«
    Walkers Trupp verließ den Hof und trottete durch ein Tor in das Verwaltungsgebäude. Victor warf einen letzten Blick auf den Ort seiner Leiden. Hier hatte er ein Jahr, sieben Monate und zehn Tage verbracht, Strafe für einen einzigen Augenblick, in dem sein Jähzorn über seine Selbstbeherrschung gesiegt hatte. Er hatte ausgerechnet, dass er während seiner Haft genau fünfhunderteinundneunzigtausendsechshundert Schritte in der Tretmühle voreinander gesetzt hatte, achtzig in jeder Schicht, eintausendzweihundert an jedem Tag, abzüglich der Sonntage, die der Andacht und dem Gebet vorbehalten waren. Und all die Kraft und Energie, die er hier im Schweiße seines Angesichts gelassen hatte, die Anstrengung seiner Muskeln und seines Willens, hatte keinem anderen Zweck gedient, als die zwei riesigen Mühlenflügel auf dem Dach des Gebäudes in Gang zu halten, ohne irgendeine Maschine oder sonstige Vorrichtung anzutreiben.Er wusste nicht, was schlimmer war: diese sinnlose, zermürbende Schinderei oder das ewige Schweigen. Jetzt, in der Stunde seiner Entlassung, zählte er jede verfluchte Sekunde,

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