Die Rebellin von Leiland 1: Maske (German Edition)
ihn stocksteif stehen bleiben. Angespannt musterte er den Nebel ringsum. Ein Schatten zeichnete sich zwischen kleinen Felsen ab, die der Dunst in hohe, schwankende Türme verwandelte. Er glich einem seltsamen skelettartigen Geschöpf mit Flügeln, das acht Fuß hoch aufragte. Ein Ungeheuer! Ein Niedergeist .
Der Nebel riss auf wie eine Stoffbahn. Andin fand sich unvermittelt einem kohlschwarzen Gesicht gegenüber, das mit zu vielen Reißzähnen bestückt war, um menschlich sein zu können! Sein gellendes Gelächter brachte die Entschlossenheit des jungen Mannes ins Wanken. Der Schauer, der ihn durchlief, war nicht mehr auf die Kälte zurückzuführen. Er hätte fliehen sollen, das wusste er. Aber Nis’ Ungerührtheit hinderte ihn an der Bewegung. Er besaß nur den Reflex, sein Schwert auf die Kreatur zuschnellen zu lassen. Sie spießte sich darauf auf, ohne auch nur zu versuchen auszuweichen.
Der Niedergeist brach nicht zusammen. Die kantige, knorrige Hand, die nach Andin ausgestreckt war, verwandelte sich wieder in Rinde. Das Ungeheuer war nichts als ein mageres Bäumchen, an dessen deformierten Ästen zwei bestimmt hundert Jahre alte Stoffstücke hingen.
Andin war noch verblüffter als beim ersten Mal. Er stand so nahe vor dem Baum, dass er nicht fassen konnte, dass er sich so sehr getäuscht haben sollte. Er drehte sich zu Nis um. Sie warf ihm wieder einen fragenden Blick zu. Allem Anschein nach hatte sie den Grund für seine Aufregung nicht begriffen. Wie konnte sie nichts bemerken? Gereizt packte Andin seine Waffe und stützte den Fuß an den Baum, um sie aus dem Stamm zu ziehen.
Genau in diesem Moment richtete Nis die Ohren auf – ein Anzeichen dafür, dass sie alarmiert war – und zerrte an ihren Zügeln. Andin fiel hintenüber und prallte auf den Boden; eine beachtliche Menge von Schlamm spritzte auf. Bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, landete ein weiteres Reptil neben ihm im Matsch. Der Instinkt, der Andin zwang, sein heruntergefallenes Schwert zu packen, hinderte ihn daran, seine Stute aufzuhalten: Sie floh in den Nebel.
»Nis! Bleib hier! Nis!!«
Das gewaltige Reptil stürzte sich schon auf ihn. Andin konnte die Schnauze gerade noch mit der flachen Seite der Klinge von sich stoßen. Die Schneiden ritzten die Schuppen, aber der Waran störte sich nicht daran. Er drückte den jungen Mann mit seinem ganzen Gewicht nieder, rammte ihm die Krallen in die Brust und riss das Maul ganz nah vor seinem Gesicht auf.
Der Blutgeruch, der hervorbrach, war abscheulich: Ein Gestank nach Tod und Fäulnis. Andin wurde davon übel. Es gelang ihm, sich loszumachen, indem er dem Tier von der Seite her einen heftigen Fußtritt in den Bauch versetzte. Der Waran rollte in den Schlamm. Obwohl er kräftig war, hinderte seine Massigkeit ihn daran, flink zu sein. Er konnte sich wieder auf die Beine kämpfen, aber es gelang ihm nicht, Andins nächstem Angriff zuvorzukommen. Der junge Mann zog einen Dolch aus einer seiner Stiefelstulpen, sprang dem Waran auf den Rücken und schnitt ihm sauber die Kehle durch.
Andin stand sofort wieder auf, um sich zu übergeben. Denn er hatte dieses ekelerregende Blut aus zu großer Nähe gerochen. Er wischte sich die Lippen und schlammbespritzten Wangen ab und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf den Nebel ringsum.
»Nis!«
Er sah sie nicht mehr. Gewöhnlich lief sie nie weit weg … Diesmal war die Angst vielleicht zu stark gewesen. Wie sollte er sie wiederfinden? Er tastete sich vorsichtig weiter vor und rief immer wieder nach ihr. Ein kleines Wiehern brachte ihn zum Lächeln. Sie suchte ihn ebenfalls.
»Ich bin hier, meine Schöne! Es ist vorbei … Kein einziges dieser Biester wird dir etwas tun! Komm her!«
Ein fuchsroter Pferdekopf mit weißen Nüstern stupste Andin an den Hals. Er seufzte erleichtert und tätschelte Nis mit einer schmutzigen Hand.
»Du hast mir einen Schrecken eingejagt, Nis! Du darfst nicht flüchten!«
Die Stute nickte mit hängenden Ohren und flehentlichem Blick. Andin war ihr Herr. Ihre Liebe war so groß, dass sie ihm bis ans Ende der vier Welten gefolgt wäre, aber hierzubleiben war für sie eine Qual. Andin schenkte ihr ein Lächeln, das von bezaubernden Grübchen unterstrichen wurde.
»Nur Mut. Leiland ist nicht mehr weit!«
Eine Bewegung im Nebel hinderte ihn daran, seine Argumentation zu Ende zu führen: Ein neuer Tunnel bildete sich. War das die Belohnung für die Prüfung? Andin versuchte nicht mehr herauszufinden, wessen Spielball er
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