Eiszeit
1
Montag, 6. Juli 2009
oder 140 Stunden bis zum Abflug
Hauptkommissar Paul Lenz sah aus dem Fenster und betrachtete den blauen Himmel. Der laue Sommerabend lud zu einem Besuch im Biergarten ein, doch Lenz war dafür zu müde. Am Vormittag hatten er und sein Team von K11, der Kasseler Mordkommission, den seit langer Zeit gesuchten Mörder zweier Frauen gefasst. Der Kommissar hatte seit knapp 30 Stunden nicht mehr geschlafen und freute sich auf sein Bett.
»Soll ich dich mitnehmen?«, fragte Oberkommissar Thilo Hain, nachdem er angeklopft und den Kopf ins Zimmer geschoben hatte.
»Lass mal, ich will lieber noch ein paar Schritte zu Fuß gehen. Die Luft wird mir guttun .«
Hain deutete auf die Stadt.
»Die Luft da draußen ist zum Schneiden und wird dir innerhalb von Sekunden den Schweiß aus allen Poren treiben. Aber wie du willst. Dann sehen wir uns morgen früh. Machs gut.«
»Ja, bis morgen«, wollte Lenz antworten, doch Hain hatte schon die Tür ins Schloss gezogen und war verschwunden. Allerdings tauchte er keine drei Sekunden später wieder auf.
»Und, schon im Urlaubsfieber?«
Lenz bedachte ihn mit einem ungläubigen Blick.
»Bist du zurückgekommen, um mich zu fragen, ob ich Urlaubsfieber habe?«
»Klar. Mein geliebter Chef hat in den letzten drei Jahren, also solange ich ihn kenne, nie länger als eine Woche Urlaub am Stück genommen. Und jetzt gleich drei Wochen! Da ist die Frage doch mehr als berechtigt.«
Lenz dachte einen Moment nach.
»Also erstens habe ich noch die ganze Woche zu arbeiten, bis es so weit ist, und zweitens fühle ich mich akut ganz und gar nicht nach Urlaub. Aber das ist nach dem Verlauf des heutigen Tages auch nicht zu erwarten, oder?«
»Nein«, bestätigte Hain. »Weißt du denn endlich, wo du hin willst?«
Lenz ließ den Kopf nach hinten fallen.
»Gar nichts weiß ich.«
Kurze Pause.
»Oder halt, ich weiß doch was. Nämlich, dass ich mich darauf freue, drei Wochen lang um diesen Bunker hier einen großen Bogen zu machen.«
»Das kann dir niemand verdenken. Vielleicht …« Weiter kam der Oberkommissar nicht, weil das Telefon auf dem Schreibtisch seines Chefs klingelte.
»Ja, Lenz«, meldete sich der Hauptkommissar.
»Hier ist Wischnewski von der Pforte, Herr Lenz. Neben mir steht ein Herr Ia …«
» Iannone «, kam es leise aus dem Hintergrund.
»Also, hier steht ein Herr Iannone und würde gerne mit Ihnen sprechen. Was soll ich mit ihm machen?«
»Worum gehts denn?«
»Das will er mir nicht sagen.«
Lenz warf einen Blick auf seine Uhr.
»Ich schicke den Kollegen Hain, der soll ihn raufbringen . Danke, Herr Wischnewski.«
Thilo Hain warf seinem Chef einen missbilligenden Blick zu.
»Fauler Sack!«
Kurze Zeit später klopfte es höflich an der Tür und Hain führte einen etwa 60 Jahre alten Mann mit grau melierten Haaren ins Zimmer. Der Oberkommissar verbeugte sich leicht und lächelte dabei.
»Das ist Signore Iannone , Herr Hauptkommissar«, erklärte er mit devotem Unterton in der Stimme. »Wenn Sie erlauben, werde ich mich dann zurückziehen.«
»Schönen Feierabend«, wünschte Lenz, kam um den Schreibtisch herum, stellte sich vor und schüttelte dem Mann mit dem dunklen Teint die Hand.
»Salvatore Iannone «, antwortete der und erwiderte den Händedruck.
»Bitte, Herr Iannone , nehmen Sie doch Platz. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ein Glas Wasser vielleicht?«
»Nein danke.«
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Lenz, nachdem sein Gast sich gesetzt und Hain die Tür zugezogen hatte.
»Sicher fragen Sie sich, was ein alter Italiener wie ich von dem Chef der Mordkommission will, Herr Lenz«, begann der Mann mit leichtem Akzent. »Aber ich weiß mir sonst nicht mehr zu helfen.« Sein ›helfen‹ klang ein bisschen wie ›elfen‹.
»Deswegen habe ich vorhin Uwe Wagner, Ihrem Kollegen, der seit ganz vielen Jahren ein Stammkunde ist, mein Leid geklagt. Und der hat gesagt, ich soll mich an Sie wenden.«
»Hm«, machte Lenz. »Worum geht es denn überhaupt, Herr Iannone ?«
Der Italiener griff mit beiden Händen an den Stuhl, setzte sich aufrecht und hob den Kopf.
»Ich betreibe das Eiscafé La Gondola in der Wilhelmshöher Allee, an der Ecke zur Humboldtstraße. Meine Frau und ich sind seit 18 Jahren dort und wir mögen es, genau wie die Leute uns mögen. In den letzten Jahren haben wir sogar über Winter nicht zugemacht, weil immer mehr Leute bei uns ihren Kaffee trinken und Kuchen oder Waffeln essen. Genau wie in einem Eiscafé in
Weitere Kostenlose Bücher