Die rechte Hand Gottes
Rennplatz zurückkam, half Saturnin gerade Marcelle bei den Hausaufgaben. Der Meister machte ihm ein Zeichen, ihm in sein Arbeitszimmer zu folgen.
»Ich bin sehr zufrieden mit dir«, sagte er, sobald die Tür geschlossen war. »Hippolyte kann stolz auf dich sein. Wer hat dir diese Art, jemandem die Luft abzudrücken, beigebracht, er oder Casimir?«
»Großvater.«
Anatole zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch an die Decke.
»Allerdings mußt du beim nächsten Mal aufpassen, dich nicht wieder überraschen zu lassen. Es macht einen schlechten Eindruck, wenn man auf dem Rücken liegt und den Kopf in den Händen hält.«
»Ich weiß, Meister, aber ich habe nicht damit gerechnet, daß Sie so schnell köpfen würden.«
Der Scharfrichter lächelte selbstzufrieden:
»Es stimmt, daß es bei mir nicht lange dauert.«
Er war ganz das Gegenteil seines Vaters Louis, der für seine Langsamkeit bekannt war.
»Ich denke, du wirst einen guten obersten Scharfrichter abgeben. Du kannst deinem Großvater schreiben, daß ich dir das gesagt habe. Es würde mich im übrigen nicht wundern, wenn du eines Tages besser werden würdest als er.«
»Wenn er jetzt hier wäre, würde er Ihnen sagen, daß das ganz natürlich ist, weil er keinen so guten Lehrer hatte wie ich ... Aber ich habe sehr viel über die Hinrichtungen nachgedacht. Es wäre mir eine große Ehre, Ihr Nachfolger zu werden, aber dann müßte ich mich ganz in Paris niederlassen, und das will ich nicht.«
»Aber warum, zum Teufel, nicht? Gefällt es dir bei uns nicht?«
»Das ist nicht der Grund, Meister, aber meine Heimat fehlt mir. Ich denke jeden Tag an Großvater und Casimir, die ganz allein dort unten sind. Sie wissen ja, daß sie nicht mehr die jüngsten sind, und es ist viel Arbeit, das Herrenhaus zu unterhalten und sich um das Museum zu kümmern. Sie fehlen mir, und ich weiß, daß ich ihnen fehle ... Und hier ist auch nicht mein Zuhause. Hier braucht man mich nicht wirklich, im Herrenhaus dagegen ... «
Am selben Abend schrieb Saturnin einen Brief an seinen Großvater, den er mit den Worten begann: » So, jetzt bin ich geimpft. Aber das war keine Kleinigkeit.«
Acht Monate (und neun Hinrichtungen) nach seiner Ankunft in Paris, fuhr Saturnin wieder nach Bellerocaille zurück.
Anatole, Rosalie und Marcelle Deibler hatten ihn auf den Bahnsteig begleitet, um ihm eine gute Reise zu wünschen. Auch Henri, der »Dicke Louis« und André, der neue Gehilfe, waren da. Nur Yvon fehlte, der, da sein Leistenbruch nie wieder verheilt war, jetzt ausschließlich als Friseur arbeitete.
Der Bahnhofsvorsteher pfiff, und die Lokomotive stieß eine Dampfwolke aus. Von einem Glücksgefühl erfüllt, stieg Saturnin auf das Trittbrett. Der Zug setzte sich in Bewegung.
»Du weißt, daß du zurückkommen kannst, wann immer du willst. Bei uns ist immer Platz für dich.«
»Danke, Meister. Ich werde es nicht vergessen.«
Nach einem letzten Winken, verschwand er in seinem gepolsterten Erste-Klasse-Abteil.
Er lächelte bei der Vorstellung, wie überrascht sein Großvater und Casimir sein würden, wenn er ihnen die Geschenke überreichte, die jetzt im Gepäckwagen untergebracht waren. Für den Knecht hatte er einen modernen, neuartigen Küchenherd gekauft, es war ein schwedisches Modell, das vier Brennstellen hatte, einen Backofen, dessen Hitzegrad man einstellen konnte, eine kupferne Umlaufstange und einen Feuerhaken aus gehärtetem Stahl. Für Hippolyte hatte er ein Grammophon mit etwa dreißig verschiedenen Opernschallplatten gekauft, und er selbst hatte sich einen Fotoapparat der Marke Klapp, Format 13 x 18 geleistet, der Alphonse Puech vor Neid erblassen lassen würde.
9
Im Herrenhaus Pibrac, Sonntag, den 2. August 1914
Casimir war gerade dabei, den Hühnern Futter hinzustreuen und sie mit einem eindringlichen »Putt, Putt, Putt« zum Fressen zu ermutigen, als die Turmglocke zu läuten begann.
Hippolyte saß im Herrenhaus in seinem Sessel und löste das Kreuzworträtsel im Journal de l'Aveyron. Gerade suchte er nach einem Wort mit sechs Buchstaben: » Man sperrt es in einen dunklen Kasten, und sie wehrt sich nicht.« Am anderen Ende des Tisches saß Saturnin, schrieb Postkarten vom Museum an die Hinterbliebenen der Opfer von Bluttaten und lud sie ein, in den nächsten Ferien das Herrenhaus zu besuchen. Die Liste mit den Namen bekam er von Hippolyte, der sie bei einer gewissenhaften Lektüre der verschiedenen Zeitungen aus Paris und
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