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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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Augenblick hatte ich geglaubt, ihnen entkommen zu können. Während ich in den fremden Hauseingang hineinlief, bis zum obersten Stockwerk kroch und wieder zusammenbrach, hatte ich immer noch Hoffnung... Macht nichts, macht nichts, das Herz wird sich in einer Stunde wieder beruhigen, das Blut läßt sich abwaschen. Bleib so liegen, Wenitschka, bleib so liegen, bis es hell wird, und dann zum Kursker Bahnhof und ... Hör auf zu zittern, ich sage dir doch, hör auf ...
    Mein Herz klopfte so laut, daß es beim Lauschen störte, aber die Geräusche drangen doch an mein Ohr: die Haustür ging unten leise auf und blieb für einige Augenblicke geöffnet.
    Ich zitterte wie Espenlaub und sagte mir selbst: »Talitha qûmî«, das heißt, stehe auf und bereite dich auf das Ende vor ... Doch ich fühlte, daß es diesmal nicht mehr »Talitha qûmî« hieß, sondern »Lama sabachthani«, wie der Erlöser sagte, was soviel heißt wie: »Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« Warum hast Du mich eigentlich verlassen, mein Gott?
    Gott schwieg.
    Himmlische Engel, sie kommen herauf! Was soll ich tun? Was soll ich jetzt tun, um nicht zu sterben? Engel...!
    Die Engel lachten schallend. Wißt ihr, wie Engel lachen? Diese schändlichen Kreaturen! Jetzt hab ich's. Soll ich euch sagen, wie Engel lachen? Irgendwann, schon sehr lange her, wurde am Bahnhof in Lobnja ein Mensch vom Zug überfahren. Auf eine ganz unglaubliche Weise: seine untere Hälfte wurde zermalmt und flog in tausend Stücken über das Gleisbett, während die obere Hälfte, von der Gürtellinie an, wie lebendig neben den Gleisen stehenblieb, so wie die Büsten von allen möglichen Schweinehunden auf Postamenten stehen. Der Zug fuhr weiter, und er, diese Hälfte, blieb so stehen mit einem betretenen Ausdruck im Gesicht und mit halb geöffnetem Mund. Viele konnten das nicht sehen, wandten sich ab, blaß und von tödlichem Grauen erfaßt. Doch da kamen ein paar Kinder angerannt, drei oder vier, lasen irgendwo eine brennende Zigarettenkippe auf und steckten sie ihm in den toten, halb geöffneten Mund. Die Kippe rauchte weiter, und die Kinder sprangen um ihn herum und lachten über diesen gelungenen Scherz ...
    So lachten jetzt auch die Engel des Himmels über mich. Sie lachten, und Gott schwieg ... Ich sah die vier bereits, wie sie von der letzten Etage die Treppe heraufkamen Die Verblüffung, die ich in diesem Augenblick empfand, war größer als jede Angst (Ehrenwort, größer). Sie waren alle vier barfuß und hielten ihre Schuhe in der Hand. Warum taten sie das? Um keinen Lärm im Treppenhaus zu machen? Oder um sich unbemerkt an mich heranzuschleichen? Ich weiß es nicht. Doch war dies das Letzte, woran ich mich erinnere, diese Verblüffung. Sie ließen sich nicht einmal Zeit zum Verschnaufen und stürzten sich, auf der letzten Stufe angekommen, auf mich. Sie stürzten sich auf mich und begannen mich zu würgen, mit fünf oder sechs Händen gleichzeitig. Ich versuchte, so gut ich konnte, meinen Hals aus der Umklammerung ihrer Hände zu lösen. Doch da geschah das Allerschrecklichste: einer von ihnen, der mit dem grimmigsten und klassischsten Profil, zog aus seiner Tasche einen gewaltigen Pfriem mit hölzernem Griff. Vielleicht war es auch kein Pfriem, sondern ein Schraubenzieher oder so was ähnliches, ich weiß es nicht. Er befahl den andern meine Hände festzuhalten, und so sehr ich mich auch wehrte, sie drückten mich zu Boden und ließen mich nicht mehr los. Ich war wie von Sinnen ...
    »Warum-warum ...? warum-warum-warum .. ?« murmelte ich...
    Sie bohrten mir ihren Pfriem mitten in den Hals ...
    Ich hatte nicht gewußt, daß es auf der Welt so einen Schmerz gibt, und krümmte mich zusammen vor Qual. Der tiefrote Buchstabe Q erzitterte und zerfloß vor meinen Augen.
    Seither habe ich das Bewußtsein nicht mehr erlangt und werde es auch nie mehr erlangen.

    Bei der Telefonkabelverlegung in Scheremetjewo,
    Herbst 1969

Anmerkungen der Übersetzerin
    29 Alexander Heizens Schwur auf den Sperlingsbergen
Auf den Sperlingsbergen — 1935 in Leninhügel umbenannt — steht die Staatliche Moskauer Lomonossow- Universität. — Der Beginn der revolutionären Tätigkeit Alexander Herzens (1812—1870) fällt in die Zeit seines Moskauer Studiums.
    36 Ajwasowskijs »Neunte Woge«
Iwan Ajwasowskij (1817—1900), Maler, insbesondere von Meerstücken. Das Gemälde »Die neunte Woge«, entstanden 1850, befindet sich im Russischen Museum in Leningrad.
    43 »Untröstlicher Kummer« von

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