Die Reise Nach Petuschki
Unverbesserlichkeit. Wovon hat sie mehr, diese Last, die noch keiner benannte? Wovon hat sie mehr? Von Lähmung oder Brechreiz? Von nervöser Erschöpfung oder tödlicher Schwermut irgendwo unweit des Herzens? Und wenn von alledem zu gleichen Teilen, wovon ist da im Endeffekt doch mehr: von Starrkrampf oder Fieberwahn? Macht nichts, macht nichts, sagte ich mir, schirme dich ab vorm Wind und geh, schön langsam. Und atme ganz selten, ganz selten. Atme so, daß sich beim Gehen die Beine in den Knien nicht verheddern. Und geh irgendwohin. Ganz gleich, wohin. Selbst wenn du nach links gehst, kommst du zum Kursker Bahnhof; und wenn geradeaus, dann kommst du auch zum Kursker Bahnhof, und wenn nach rechts, dann auch zum Kursker Bahnhof. Darum geh nach rechts, um ganz gewiß hinzukommen. O Vergeblichkeit! O Vergänglichkeit! O du ohnmächtigste und schmachvollste Zeit im Leben meines Volkes — o Zeit zwischen Morgendämmern und Öffnung der Geschäfte! Wieviel zusätzliche graue Strähnen hat sie in uns alle hineingeflochten, in die brünetten Haarschöpfe von uns obdachlosen Melancholikern! Geh, Wenitschka, geh.
Moskau. Platz des Kursker Bahnhofs
Na siehst du, ich habe doch gewußt, was ich sage: wenn du nach rechts gehst, kommst du ganz gewiß zum Kursker Bahnhof. Langweilig war dir in den Gassen, Wenitschka, Rummel wolltest du — da hast du deinen Rummel ...
Hör doch auf, winkte ich mir selber ab, glaubst du etwa, ich brauche deinen Rummel? Glaubst du etwa, ich brauche deine Leute? Selbst der Erlöser, sogar der sagte, und das zu seiner eigenen Mutter: »Was habe ich mit dir zu schaffen?«, und erst recht ich — was habe ich mit diesen hektischen, widerwärtigen Leuten zu schaffen?
Ich lehne mich lieber gegen die Säule und kneife die Augen zusammen, das hilft gegen den Brechreiz ...
»Aber ja, Wenitschka, aber ja«, begann jemand hoch oben zu singen, ganz leise und so sanft, so sanft, »kneif die Augen zusammen, das hilft gegen den Brechreiz.«
Ich erkenne sie! Das sind wieder sie! Die Engel des Herrn! Ihr seid es wieder.
»Natürlich sind wir es«, und wieder so sanft. ..!
»Wißt ihr was, Engel?«fragte ich, auch ganz, ganz leise.
»Was?« fragten die Engel.
»Es ist so schwer...«
»Aber wir wissen doch, daß es schwer ist«, sangen die Engel. »Lauf ein wenig herum, dann wird dir leichter. Und in einer halben Stunde öffnet das Geschäft. Wodka gibt es zwar erst ab neun, aber Roten geben sie dir gleich.« »Roten?«
»Roten«, antworteten singend die Engel des Herrn. »Schönen kühlen?«
»Schönen kühlen, natürlich ...«
Wie mich das erregte!
»Herumlaufen, herumlaufen sagt ihr, soll ich, damit mir leichter wird. Aber nach Herumlaufen ist mir nicht. Ihr wißt doch selbst, wie das mit Herumlaufen ist in meinem Zustand ...«
Darauf schwiegen die Engel, aber dann begannen sie wieder zu singen:
»Weißt du was? Du könntest ins Bahnhofsrestaurant reinschauen. Könnte ja sein, daß es da was gibt. Die hatten gestern abend Sherry, den können sie schließlich an einem Abend nicht ganz ausgetrunken haben .. !«
»Ja, ja, ja. Ich gehe. Ich gehe gleich. Ich erkenne euch wieder. Ich danke euch, Engel.«
Und sie sangen wieder so leise, leise:
»Zum Wohl, Wenja ...«
Und dann so sanft, so sanft:
»Es lohnt nicht...«
Wie lieb sie sind...! Ja dann, auf geht's. Wie gut, daß ich gestern die Gastgeschenke besorgt habe. Ich könnte ja nicht ohne Geschenke nach Petuschki fahren. Ohne Geschenke nach Petuschki — unmöglich. Die Engel waren es, die mich daran erinnert haben, weil die, für die die Geschenke bestimmt sind, selbst an Engel erinnern. Wie gut, daß du gestern die Geschenke gekauft hast...
Aber wann hast du sie gestern gekauft? Erinnere dich, geh und erinnere dich.
Ich ging über den Platz, genauer: ich ging nicht, ich wurde gezogen. Zwei- oder dreimal blieb ich wie erstarrt stehen, um meine Übelkeit zu unterdrücken. Denn das Wesen des Menschen umfaßt nicht nur eine physische Seite, es umfaßt auch eine geistige Seite und darüber hinaus eine mystische, eine übergeistige Seite. Und eben deshalb wartete ich jeden Augenblick darauf, daß mir mitten auf dem Platz von allen drei Seiten speiübel wird. Und wieder blieb ich stehen und erstarrte wieder.
Also noch mal! Wann hast du gestern die Geschenke gekauft? Nach dem Jägerschnaps? Nein, nach dem Jägerschnaps war mir nicht nach Geschenken. Zwischen dem ersten und dem zweiten Jägerschnaps? Auch nicht! Zwischen den beiden war eine Pause
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