Die Reisen des Paulus
wisse sehr wohl, daß geschrieben stünde: »Den Obersten deines Volkes sollst du nicht schmähen.« Sicher wußte Paulus, wer der Hohepriester war. Er kannte seinen Namen, kannte seinen Platz und kannte sein Gewand. Wieder einmal hatte sich der Revolutionär in ihm geregt. Und dann sah er eine Möglichkeit, Zwietracht unter den Mitgliedern des Hohen Rats zu säen. Er wußte natürlich um den unversöhnlichen Gegensatz zwischen Pharisäern und Sadduzäern in der Auferstehungsfrage. Die Sadduzäer bestritten, daß es eine Auferstehung der Toten gebe. Paulus verkündete, er sei ein Pharisäer und eines Pharisäers Sohn. Und er glaubte an die Auferstehung der Toten. Sofort brach der Tumult los. Die einen schrien so, die anderen so. Der römische »Oberhauptmann« Lysias, der Paulus vor den Hohen Rat geführt hatte, betrachtete das Ganze wohl mit Verachtung, aber nicht 332
ohne eine gewisse Erheiterung. Was sollte man mit solchen Leuten machen? Da riefen und schrien und brüllten sie und rauften sich die Bärte wegen einer völlig verblasenen Sache.
Wenn man tot ist, ist man tot. Das wußte doch jeder. Er hatte in seinem Leben genug Tote gesehen. Dann befahl er der Wache, Paulus wegzuführen, bevor es zu einer Rauferei kam und er verletzt wurde. Man internierte Paulus wieder in der großen Burg Antonia.
Lysias fühlte sich überfordert. Schließlich war er nur ein Chiliarch, Befehlshaber einer Truppe von tausend Mann.
Und die Sache schien jetzt solche Ausmaße angenommen zu haben, daß es nötig wurde, sie an eine höhere Instanz weiterzuleiten. An diesem Punkt schaltete sich völlig unerwartet jemand ein. Paulus’ Schwester (von der wir nicht einmal den Namen wissen) lebte verheiratet in Jerusalem. Ihr Sohn kam zu Lysias und meldete, er habe von einer Verschwörung erfahren. Sein Onkel solle getötet werden. Paulus’ Schwester und ihre Familie waren wohl orthodoxe Juden. Wären sie Christen gewesen, so hätte ihr Sohn kaum von der Verschwörung gehört. Man hätte keinen Christen bei den gefährlichen Gesprächen über den Mordplan lauschen lassen. Zweifellos schätzten die Schwester und ihr Haus Paulus’ Ansichten ganz und gar nicht, aber die jüdischen Familienbande waren so stark, daß die Bedrohung eines Familienmitglieds eine Bedrohung für alle darstellte.
Blut ist dicker als Wasser – und als religiöse Differenzen.
Lysias, der der ganzen Sache mehr als überdrüssig gewesen sein muß, erfuhr zu seiner Verblüffung, daß mehr als vierzig Juden – vielleicht Zeloten, vielleicht auch Tempelpo-lizisten, die für den Sanhedrin gelegentlich schnell und dis-333
kret einen Mord besorgten (ein krasser Verstoß gegen das römische Gesetz) – gelobt hatten, Paulus umzubringen. Sie wollten nichts essen und nichts trinken, bis sie ihre Mission erfüllt hatten. Paulus’ Neffe war tapfer. Indem er dem Römer von der Verschwörung berichtete, setzte er sein eigenes Leben aufs Spiel. An dieser Stelle hören wir zum ersten Mal von ihm und seiner Mutter. Man darf annehmen, daß eine völlige Aussöhnung stattgefunden haben muß und daß Paulus bald darauf ein Teil des väterlichen Erbes ausge-zahlt wurde.
Paulus brauchte später nicht mehr zu seinem erlernten Beruf zurückzukehren und war auch nie in großen Geldnö-
ten. Jedenfalls deutet nichts darauf hin. Vor der Reise, auf der er Schiffbruch erlitt, bis hin zu den Jahren in Rom ist nie vom Handwerk des Zeltmachers oder von Armut die Rede. Sicher scheint ebenfalls, daß etliche Gemeinden, die er gegründet hatte, einen Teil ihrer Kollekten an den Mann schickten, der ihnen die frohe Botschaft vom Messias und die Kunde vom nahen Weltende gebracht hatte. Sei dem, wie ihm wolle, Lysias wünschte Paulus aus Jerusalem abzu-schieben. Ob er recht hatte oder nicht oder aber ob alle Juden verrückt waren (was er manchmal vermutete) – es war seine Pflicht, den Unruhestifter aus der Stadt zu entfernen, in der es schon in friedlichen Zeiten mehr als genug gär-te. Er schrieb unverzüglich an den Prokurator von Judäa, es sei ein von Geburt römischer Bürger, der der Abstammung nach jedoch ein Jude war, von den Juden in Jerusalem ergriffen worden. Diese hätten lautstark gefordert, ihn zu töten.
Ihm selbst schiene es, als habe jener Paulus nichts getan, was gegen das römische Gesetz verstieß. Trotzdem meine er, zu 334
seinem eigenen Schutz sei es am besten, ihn mit einer Es-korte nach Cäsarea zu schicken. Felix, der Prokurator, muß den Brief leicht melancholisch und
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