Die Reisen des Paulus
er starb, büßte er damit seine Schuld am Tode des Stephanus ab, seine stillschweigende Einwilligung in diesen Mord. Wenn ihn dagegen die römische Obrigkeit in ihren Schutz nahm, wür-de er endlich nach Rom gelangen. Nachdem Agabus ausge-redet hatte, baten alle flehentlich, Paulus solle nicht nach Jerusalem ziehen. Seine Erwiderung darauf zeugt von seiner Entschlossenheit: »Was macht ihr, daß ihr weinet und bre-323
chet mir mein Herz? Denn ich bin bereit, nicht allein mich binden zu lassen, sondern auch zu sterben zu Jerusalem um des Namens willen des Herrn Jesus.« Er und seine Gefährten brachen auf. Sie ritten auf Maultieren und nahmen die Beiträge Cäsareas für die Mutterkirche mit. Dazu gehörte zweifellos nicht nur Geld, sondern auch Getreide, Trocken-früchte und eingesalzener Fisch – ein wichtiges Grundnahrungsmittel für die Armen. Unterwegs verbrachten sie eine Nacht im Hause eines zypriotischen Konvertiten. Dann beeilten sie sich, nach Jerusalem zu kommen, ritten die gewundene Straße bergauf, die zu dieser Zeit wahrscheinlich von vielen Pilgern bevölkert war. Pfingsten stand vor der Tür, und da wollte Paulus bereits in Jerusalem sein. Kurioser-weise entsprach Pfingsten, das im Jahre 57 auf den 28. Mai fiel, einem bäuerlichen Fest kanaanitischen Ursprungs. Es wurde als eine Art Erntedankfest 50 Tage nach dem zweiten Passahtag beziehungsweise sieben Wochen nach Beginn der Getreideernte gefeiert. Im Tempel wurden für die Ernte Dankopfer dargebracht. Und außerdem kreiste der Be-cher. Die Römer wußten, daß sie zu dieser Zeit immer mit Schwierigkeiten rechnen mußten.
Paulus suchte zuallererst Jakobus und die Kirchenältesten auf und überreichte ihnen das Geld. Er wurde freundlich empfangen. Man bat ihn, von seiner Arbeit in Asien, Mazedonien und Griechenland zu berichten. Natürlich waren alle hocherfreut über die Erfolge dieses außergewöhnlichen Missionars, der so viele Orte besucht hatte, die sie nie im Leben sehen würden, und der es vermocht hatte, so viele Menschen in der Fremde für ihren Glauben zu gewinnen.
Allerdings gab es auch gewisse Vorbehalte. Seinem Bericht 324
nach zu urteilen, war es überall, wo er weilte, zu Unruhen und Verdruß gekommen – und man erinnerte sich nur zu gut an seine Vergangenheit. Die Kirche von Jerusalem hatte sich ruhig und gedeihlich entwickelt und einen modus vivendi mit den orthodoxen Juden finden können. Sie redeten Paulus zu, er solle mit vier Männern, die ein Gelübde abgelegt hatten, in den Tempel gehen und sich der Zeremonie der Reinigung unterziehen. Dazu mußte man sich sieben Tage des Weins enthalten, sich den Kopf scheren und schließlich ein Opfer darbringen. Die orthodoxen Juden, meinten sie, würden dann glauben, daß Paulus sich noch ans Gesetz hielt und daß die Gerüchte, die durchgesickert waren
– er habe Nichtjuden und Juden gelehrt, wider das Gesetz zu handeln –, nicht stimmten. Ein guter und vernünftiger Plan, doch es war unwahrscheinlich, daß er bei der hitzigen Atmosphäre, die während der Festtage zu herrschen pflegte, gelingen konnte.
Noch vor Ablauf der sieben Tage wurde Paulus von Juden aus Kleinasien im Tempel gesehen. Sie erkannten ihn sofort. Das war doch der Bursche, der überall Unruhe ge-stiftet hatte! Er hatte die Gemeinden verdorben von Antiochien bis Lystra und Derbe, überall, sogar in Mazedonien und Griechenland! In Jerusalem hatten sie ihn zusammen mit einem Griechen namens Trophimus gesehen, und jetzt nahmen sie an, er habe sich gegen Gottes Gesetze vergangen und ihn frevelhafterweise mit in den Tempel genommen.
Das allerdings war ziemlich ausgeschlossen, denn Paulus wußte so gut wie jedermann, daß kein Nichtjude den inne-ren Tempelbezirk betreten durfte. Man zog ihn zum Tempel hinaus. Die Verantwortlichen schlossen klugerweise die 325
Türen hinter ihm. Massenhysterie peitschte die Stadt auf.
Sie wollten Paulus töten.
Der römische Standortkommandant wurde sofort da-
von unterrichtet, daß »das ganze Jerusalem in Aufruhr sei«.
Genau das, was er erwartet hatte! Diese Juden, äußerlich so formell, so geschniegelt und gebügelt – kaum schauten sie ein bißchen zu tief ins Glas, und schon waren sie schlimmer als alle anderen Völker im ganzen Reich! Ein Einsatzkom-mando wurde eiligst aufgestellt. Die Soldaten stießen die Menge mit den Speergriffen beiseite, drängten sie mit den Schilden zurück. Zweifellos wünschten sie sich, lieber in einem ruhigen Winkel des Reiches zu sein, wo die
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