Die Reisen Des Paulus
nicht – wir dürfen nie vergessen, daß 194
dieser tapfere und zuverlässige Gefährte ebensoviel litt wie Paulus und im Gegensatz zu ihm nicht unter dem Schutz des römischen Gesetzes stand. Sie gewannen zahlreiche Neubekehrte, und von ihnen wurden sie gewarnt. Man habe sich gegen sie verschworen und wolle sie steinigen. Die Obrigkeit werde sich vermutlich blind stellen. Man hatte beiden Männern befohlen, die Aufwiegelei in der Region Antiochien zu unterlassen, und sie waren immer noch da. Paulus und Barnabas sahen, daß ihre Lehre schon in der Stadt zu wirken begann – wie Sauerteig gewissermaßen –, und daher beschlossen sie weiterzuziehen. Jetzt sollte es nach Lystra gehen, einer weiteren Stadt in der Kette, die Augustus zusammengeschmiedet hatte, um die Pax Romana, den rö-
mischen Frieden, in Kleinasien aufrechtzuerhalten.
Die Einwohner von Lystra sprachen lykaonischen Dia-
lekt, doch die Verkehrs- und Gebildetensprache dürfte das demotische Griechisch jener Tage gewesen sein. Paulus war von Jugend auf damit vertraut. In der Stadt gab es nur wenige Juden und keine Synagoge. Die einzigen Juden, die den Ort regelmäßig besuchten, waren möglicherweise Kaufleute, die im Herbst nach Lystra kamen, um Getreide für Ikonion und Antiochien zu beschaffen. Paulus und Barnabas wohnten entweder in einer Herberge oder bei Juden, an die sie durch Bekannte empfohlen worden waren. Sie sprachen privat mit den Menschen und benutzten wahrscheinlich au-
ßerdem das Forum, den Marktplatz, dazu, um jene Stadtbe-wohner zu erreichen, die Griechisch verstanden und bereit waren, der außergewöhnlichen Botschaft dieser beiden Reisenden zu lauschen (die offenbar außer reden nichts zu tun hatten). Und wie die Juden reden konnten! Verblüffend, daß 195
sie jemals eine Arbeit zu Ende brachten – und dieses seltsame Paar, so schien’s, sorgte in gar keiner Weise für seinen Lebensunterhalt. Doch im Osten war man vertraut mit in-spirierten Irren, die allen möglichen und unmöglichen Ideen anhingen. Jedenfalls schienen das wenigstens ganze Männer zu sein, keine Leute vom Schlag der Kybele – und Attisprie-ster – obwohl einem der Glaube an einen Gottmenschen, der im Frühling gestorben und nach drei Tagen wiederauferstanden war, nicht ganz unbekannt vorkommen wollte.
Was in Lystra wie der Blitz einschlug, war ein äußerst ungewöhnliches Ereignis. Eines Tages sprach Paulus zu einer vermutlich zumeist skeptischen Menge. Da bemerkte er zufällig, daß unter ihnen ein Mann saß, der als Krüppel zur Welt gekommen war. Vielleicht hatte er schon vorher gesehen, wie dieser Lahme von Freunden oder Verwandten durch die Stadt getragen wurde. Kraft durchströmte Paulus, die gleiche Kraft, die den Zauberer auf Zypern so verwirrt hatte, nur war es diesmal heilende Kraft. Dieser Mann glaubte an ihn, das erkannte er, dieser Mann glaubte an das, was er sagte, und ohne Glauben auf beiden Seiten konnte die Kraft nicht wirken. Paulus sah ihn an, mit demselben festen Blick wie damals bei Elymas, und rief: »Stelle dich aufrecht auf deine Füße!« Die Wirkung war faszinierend: »Und er sprang auf und wandelte.«
Der Lahme war genesen. Die Einwohner von Lystra
waren überwältigt. Sie kannten den Mann von Kindesbeinen an, sie konnten bezeugen, daß er nicht zu gehen vermocht hatte – und nun kam dieser seltsame Reisende, der immer diesen Heiland im Munde führte, und heilte ihn.
Unbegreiflich. Es nimmt nicht wunder, daß ihnen schlag-196
artig eine Sage einfiel (die das einzige war, womit Lystra einen gewissen Anspruch auf Ruhm begründen konnte). Vor langer, langer Zeit, als die Götter die Erde noch öfter besuchten als jetzt, waren Zeus und sein Bote Hermes vom Himmel herabgestiegen und in ihre Gegend gekommen,
um die Menschen auszuforschen. Sie hatten sich als mit-tellose Wanderer verkleidet und wurden alles andere als gastlich aufgenommen. Man lachte sie aus und schmähte sie. Besitzlose und Reiche wiesen ihnen die Schwelle. Doch schließlich gelangten sie zu einer bescheidenen Hütte, in der zwei arme alte Leute wohnten – Philemon und seine Gattin Baucis. Sie erbarmten sich über die Wanderer und bewirteten sie, so gut sie’s konnten – mit einfachem Brot, einem Ei vielleicht und mit herbem Landwein. Bevor die Götter zum Olymp zurückkehrten, verwandelten sie alle Lykaonier, die ihnen die Gastfreundschaft verweigert hatten, in Frösche und jagten sie in einen See. Philemon und Baucis aber wurden reich belohnt. Die Götter
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