Die Reisen Des Paulus
Richtung Westen nach Derbe führte. Sie besuchten die Konvertiten, verlasen die Anweisungen der Jerusalemer Kirche (die gewiß mit Genugtuung aufgenommen wurden) und zogen weiter nach Lystra. Hier, wo er gesteinigt und für tot liegengelassen worden war, fand Paulus eine blü-
hende Gemeinde vor. Silas und er wohnten im Haus einer Witwe. Sie hatte einen Sohn, einen jungen Mann namens Timotheus. Beide waren bei Paulus’ erstem Aufenthalt bekehrt worden.
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Timotheus’ Mutter war Jüdin, sein Vater Grieche. Solche Mischehen dürften im Osten nicht ungewöhnlich gewesen sein, aber Timotheus wurde anscheinend eher als Jude betrachtet. Er wollte nicht nur Christ sein, sondern auch als vollwertiges Mitglied in die Religionsgemeinschaft aufgenommen werden. Paulus richtete es ein, daß er beschnitten wurde. Damit handelte er keineswegs den Satzungen von Jerusalem zuwider. Sie besagten lediglich, daß Heiden nicht beschnitten werden müßten; wenn sie es aber selbst wünschten – um so besser. Timotheus wurde später Paulus’ vertrautester Gefährte und Mitarbeiter. Er wollte sich als würdig erweisen, als eifriger Christ, Paulus und Silas begleiten, mithelfen bei der Gründung neuer Gemeinden und andere besuchen, die in der Zwischenzeit entstanden waren. Paulus zog es ganz offensichtlich nach Ephesus. Die alte ionische Stadt lag an der Küste, ein Stück weit nördlich von der schönen Insel Samos. Sie war ein bedeutender Handelsplatz, was sie der günstigen Lage an der Mündung des Kaystros verdankte. In der Nähe befanden sich zwei weitere Flüsse. Ephesus war der ideale Ort für eine neue Gemeinde, denn es hatte Verbindungen zum gesamten Hinterland und nach Griechenland. Ehrgeizige Zie-le schwebten Paulus vor: Griechenland, dann Italien und schließlich Rom. Jahrelang hatte er sozusagen an der Peri-pherie gelebt, doch die Erfahrungen der ersten Missionsreise ließen in ihm die Überzeugung reifen, daß er imstande sei, die Welt zu verändern. Griechenland war das Zentrum des Geistes, Rom das Zentrum der Macht. Sein ganzes Leben lang erwies sich Paulus als scharfsinniger Mann, der die Welt und ihre Ränke kannte. Er wußte die Macht auf-221
zuspüren – etwas Macht, wenn auch kaum politischer Art, in Jerusalem, etwas Macht im syrischen Antiochien, weniger in Antiochien in Pisidien, noch weniger in seiner Heimatstadt Tarsus und ganz wenig in abgelegenen Orten wie Derbe und Lystra. Doch galt sein Ehrgeiz nicht der eigenen Person (und gewiß nicht materiellen Gütern), sondern ausschließlich seiner Sache – dem Glauben. In allen Entbehrungen, Nöten und körperlichen Schmerzen konnte er sich doch den Erfolg vorstellen. Daran zweifelte er nicht, und mit seiner glühenden Entschlossenheit vermochte er die Unsicherheit der anderen zu zerstreuen. Die meisten Menschen, damals wie heute, wissen nicht, was sie wirklich wollen – ein ungestörtes, ruhiges Leben vielleicht, eine gewisse Sicherheit für sich und die Ihren, einen friedlichen Tod
– aber nicht viel mehr. Die großen Träumer sind völlig anders. Seltsam, daß bestimmte Charaktere sogar Ähnlichkeiten in der Erscheinung aufweisen: »Sein Äußeres zeichnete sich durch Schlichtheit und Kraft aus. Er war nicht ganz mittelgroß, und er hatte die plebejischen Gesichtszü-
ge des slawischen Typus, überstrahlt von durchdringenden Augen; seine mächtige Stirn und sein noch mächtigerer Schädel gaben ihm eine ausgeprägte Individualität. Bei der Arbeit war er unermüdlich in einem Maße, das jeden Vergleich übersteigt. Ob Vorträge vor einem kleinen Arbeiter-verein in Zürich oder der Aufbau des ersten sozialistischen Staates der Welt – an alles wandte er dasselbe exemplari-sche Bewußtsein … Die Einfachheit seiner täglichen Gewohnheiten rührte daher, daß seine geistige Arbeit und der angespannte Kampf nicht nur seine Interessen und Gefüh-le ganz in Anspruch nahmen, sondern ihm auch tiefe Be-222
friedigung verschafften. Seine Gedanken ließen nie von der einen Aufgabe ab: die Arbeiter zu befreien.«
Diese Beschreibung Lenins stammt von seinem gro-
ßen Landsmann Trotzki. Setzt man für »Zürich« »Derbe«
ein und für »den ersten sozialistischen Staat« »die christliche Kirche«, so ergeben sich beträchtliche Ähnlichkeiten.
Doch es bleibt ein großer Unterschied. Lenin war es darum zu tun, die Arbeiter von den Ketten einer bestimmten Gesellschaftsordnung zu befreien und statt dessen eine Gesellschaft zu schaffen, die er für ungleich besser
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