Die Reisen Des Paulus
vor sich das waldige, hügelige Imbros. Hier gab es zwei natürliche Häfen, in die sich das Schiff flüchten konnte, falls der Nordwind zu stark auffrischte. Aber sie hatten anscheinend Glück, denn in der Apostelgeschichte heißt es: »und geradeswegs kamen wir nach Samothra-ke«. Gut möglich, daß sie hier einen kurzen Zwischenauf-enthalt machten, damit Passagiere von Bord gehen konnten
– jetzt war Hochsommer, und im August fand das Fest der geheimnisvollen samothrakischen Gottheiten, der Kabeiri, statt. Paulus und seine Begleiter müssen, selbst wenn sie es nicht wollten, schon auf dem Schiff Gerede über die Kabeiri gehört haben, das sich noch gesteigert haben dürf-te, als sie sich dem Bergmassiv der Insel näherten, das über 1300 Meter hoch ist und die gesamte nördliche Ägäis beherrscht. Die Kabeiri waren Fruchtbarkeitsgötter und wur-229
den auf Samothrake schon in vorgriechischer Zeit verehrt.
Ihr Name leitet sich vielleicht vom phönizischen Quabirim (die Mächtigen) ab. Der Ritus wurde strikt geheimgehalten.
Zugang hatten nur Eingeweihte. Die Kabeiri waren vor allem den Seeleuten wohlgesinnt. Christen und Juden, die auf dem Schiff mitfuhren, wandten die Augen ab, als die Griechen und anderen Heiden zum Gebet niederknieten und
auf dem Altar, der normalerweise immer am Heck stand, Weihrauch verbrannten. Einige Matrosen trugen wohl far-benprächtige Amulette oder purpurne Schärpen – Zeichen dafür, daß sie Eingeweihte waren und unter dem Schutz der Kabeiri standen, die sie vor Schiffbruch und Tod durch Er-trinken bewahrten. Das Schiff drehte nach Backbord, um-rundete die Nordspitze von Samothrake und passierte die Inselhauptstadt. Dahinter lag in einem tiefen, engen Tal das Heiligtum, wo die Kabeiri lebten, wo der Weihrauch vor ihren Symbolen, steinernen Phalli, aufstieg.
Tags darauf fuhren sie nach Thasos hinüber, der nördlichsten Insel in der Ägäis, berühmt für Marmor, Wein und Nüsse. Die Hänge waren dicht mit Kastanien bewachsen, und drunten bewegten sich leicht und silbern schimmernd die Blätter der Ölbäume. Eine gesegnete, schöne Insel! Man kann nur Vermutungen darüber anstellen, ob Paulus und seine Gefährten ihr viel Aufmerksamkeit schenkten, denn die Apostelgeschichte handelt nicht von szenischen Schönheiten, aber selbst ein Mann, der von seiner Aufgabe besessen ist, kann wohl nicht an einem hellen Sommertag an Thasos vorbeifahren, ohne daß ihm das Herz höherschlägt.
Bald glitten sie an der mazedonischen Küste vorbei. Die Matrosen trimmten die Segel oder standen bereit, sie zu ref-230
fen, falls Böen von den Hügeln herunterfegen sollten. Schon sahen sie vor sich in der Tiefe einer Bucht den Hafen Neapolis. Im Süden ragte der mächtige Bergkegel des Acte über 2000 Meter hoch in den Himmel auf – eines Tages würde er Athos heißen, und Dutzende von Klöstern würden von dem Glauben künden, der jetzt zum erstenmal diese Küsten erreichte.
Von Neapolis aus führte eine römische Straße zu ihrem Zielort Philippi. Sie stiegen die Paßhöhe des Berges Simbo-lon hinauf, sahen hinter sich Neapolis und das stets bewegte Meer liegen und vor sich die Ebene und Philippi unter der gleißenden Sonne. Philippi ist heute eine tote Stadt, damals aber war es eine wichtige Garnison. Auf dem Gelände der Akropolis stand eine große befestige Kaserne, steinerne Umwallungen umgaben die Stadt, und über der Via Egnatia, die weiter nach Rom führte, wölbte sich ein massiver Triumphbogen. Benannt nach Philipp von Mazedonien, dem Vater Alexanders des Großen, rühmte sich Philippi gern, »die erste Stadt in Mazedonien« zu sein, obwohl ihr diesen Rang Amphipolis, das Zentrum des östlichen Landesteils, streitig machte. Philippi war zu einem Symbol des Imperium Romanum geworden. Bei Philippi, behauptete die Geschichtsschreibung, hatte Augustus über die Mörder von Julius Cä-
sar gesiegt – über Brutus und Cassius. Zwei Schlachten wurden geschlagen. In der ersten fiel Cassius, in der zweiten wurden die restlichen Truppen unter Brutus völlig auf-gerieben. Brutus, den Shakespeare fälschlicherweise als den
»edelsten der Römer« bezeichnete (er war möglicherweise ein Sohn Cäsars, ganz sicher aber ein Verräter), überlebte die zweite Schlacht und wurde von einem Freund gedrängt, 231
die Walstatt eiligst zu verlassen. Und jetzt kam sein Augenblick von Größe. »Fliehen?« sagte er. »Ja, aber dazu müssen uns die Hände dienen, nicht die Füße.« Und damit stürz-te er
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